22. Jahrgang | Nummer 20 | 30. September 2019

Friedenssicherung durch Abschreckung?

von Wilfried Schreiber

Ich gehöre zu jenen Bürgern unseres Landes, die noch eine wache Erinnerung an die Schrecken des großen Krieges haben, der 1945 endete. Einen Teil meiner Kindheit verbrachte ich in den Luftschutzkellern von Dresden, die zwar mich vor den Bomben retteten, nicht aber meine Heimatstadt. „Nie wieder Krieg“ war mir gewissermaßen in die Wiege gelegt und bestimmte maßgeblich mein Leben in der DDR. Ich habe mich mit der DDR identifiziert und war fest davon überzeugt, dass man auch bereit sein muss, sein Heimatland zu verteidigen. Lange glaubte ich an die friedenserhaltende Kraft der gegenseitigen Abschreckung. Ich wurde 1955 Soldat und bin es bis Ende 1990 geblieben. Aber ich möchte jetzt hier keine Reminiszenzen zur DDR und zum Fall der Mauer anstellen, sondern lediglich einige Gedanken zur Rolle von militärischer Gewalt im Wandel der letzten 30 Jahre äußern.
Ein günstiges Schicksal ermöglichte es mir, als Offizier und Hochschullehrer der NVA am deutsch-deutschen sicherheitspolitischen Dialog zwischen der SED und der SPD teilzunehmen. Heute erinnert sich kaum noch jemand in unserem Lande, dass es so etwas tatsächlich gegeben hat. Grundlage dafür bildete das gemeinsame Dokument von SPD und SED „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ vom August 1986. Die Grundwertekommission der SPD und die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED hatten es mit dem Einverständnis ihrer Parteiführungen vereinbart. Es blieb von Anfang an in beiden Parteien umstritten, aber es ermöglichte, dass Sicherheitspolitiker, Wissenschaftler und Militärs beider deutscher Staaten miteinander reden konnten. In diesem Prozess lernte ich auch Offiziere der Bundeswehr kennen, die sehr ähnlich dachten wie ich und ebenfalls nichts anderes wollten, als den Frieden in Deutschland und Europa zu erhalten. Aber beide Seiten waren damals durch völlig überzogene wechselseitige Bedrohungswahrnehmungen verblendet und glaubten, mit dem Säbel rasseln zu müssen. Jeder hielt seine eigene Seite für die Guten und die andere Seite für die Bösen. Unsere Hauptsorge galt damals am ehesten einer nicht beherrschbaren Eskalation, die zu einem beidseitig nicht gewollten Krieg hätte führen können.
30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges scheint – unter völlig neuen Rahmenbedingungen – eine solche Sorge wieder aufzuleben. Die Sowjetunion und der Warschauer Vertrag sind zwar längst Geschichte, aber die NATO existiert noch und ist bis unmittelbar an die russische Grenze vorgerückt. Der Westen verstand den Zusammenbruch des realen Sozialismus als Sieg der eigenen Seite und verspielte die Chance für eine gemeinsame europäische Friedensordnung. Die alte Feindschaft zwischen dem Westen und Russland brach wieder auf. Dabei ist es heute von minderer Bedeutung,, wer und was alles für die erneute Konfrontation die Verantwortung trägt.
Man kann auf jeden Fall sagen, dass Friedenssicherung durch Abschreckung heute noch fragiler ist als damals. Einerseits sind die westlichen Industriestaaten durch ihre wechselseitigen Vernetzungen und die totale Abhängigkeit von Elektroenergie enorm verletzlicher gegen destruktive Einwirkungen auf ihre Infrastruktur (Wasser, Energie, Transport, Versorgung, Kommunikation) geworden. Andererseits haben zugleich die Möglichkeiten für destruktives Einwirken auf die westlichen Industriegesellschaften durch Digitalisierung und Computerisierung gewaltig zugenommen. Man kann heute landesweit Chaos erzeugen, ohne einen Schuss abzugeben. Die neuen technischen Möglichkeiten zur traditionellen und zur nuklearen Kriegführung sowie zur Entgrenzung von Kriegen sollen dabei gar nicht näher erörtert werden. Insbesondere die Staaten der Europäischen Union sind zur Führung von Kriegen auf ihrem eigenen Territorium völlig untauglich geworden. Weil durch solche Kriege – selbst ohne Kernwaffen – ihre gesellschaftliche und physische Existenz infrage gestellt wäre. Militärische Stärke und Gewaltpolitik nach außen gewährleisten für uns selbst keine Sicherheit mehr. Sie können höchstens noch eine Rolle in schwächeren Ländern der Dritten Welt spielen – sowohl zur Befriedung von Konflikten als auch zur Zerstörung ihrer Staatlichkeit. Die Praxis zeigt mehr Beispiele für die zweite Variante.
Die Bedingungen für Sicherheit und Stabilität in Europa sind heute komplexer und komplizierter als am Ende der Blockkonfrontation. Damals war beidseitig der politische Wille zur Entspannung vorhanden. Und auch die Militärs hatten sich weitgehend adäquat dazu verhalten. Selbst die NVA hat ihren Beitrag für den einen friedlichen Wandel in Deutschland geleistet, indem sie sich loyal zur letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière gezeigt und schließlich selbst aufgelöst hat, als die deutsche Einheit verhandelt und beschlossen war. Die Wende in der DDR vollzog sich, ohne dass auch nur ein Schuss gefallen ist. Und die sowjetischen beziehungsweise russischen Streitkräfte zogen sich bedingungslos und vollständig auf ihr eigenes Territorium zurück. Übrigens war dieser Prozess vor fast exakt 25 Jahren beendet. Dieses Jubiläum wurde von der offiziellen Politik und den Mainstreammedien in seiner friedenspolitischen Bedeutung weitgehend ignoriert.
Die Außenpolitik Deutschlands und der EU hat sich besonders in den letzten 20 Jahren gewandelt und ist in Konfliktsituationen inzwischen eher auf Konfrontation ausgerichtet und weniger auf Deeskalation und Kooperation. Daran kann auch die Formel von der Dialogbereitschaft nichts ändern. Es geht um die Durchsetzung von Interessen und auch vermeintlichen Werten mittels ökonomischer und auch militärischer Gewalt. Strafzölle und Sanktionen sind gängige Mittel der Außenpolitik geworden.
Der transatlantische Westen – und damit auch Deutschland und die EU – sind genau in dem Moment außen- und sicherheitspolitisch militant geworden, als sich das geopolitische und geoökonomische Kräfteverhältnis zugunsten aufsteigender Mächte wie China, Indien und Russland, aber auch neuer Regionalmächte wie Iran, Türkei oder auch Saudi-Arabien zu verschieben begann. Es ist die alte Krankheit des Westens, die Huntington schon Anfang der 1990er Jahre beklagt hat: Die kapitalistischen Industrieländer verstehen sich als höchste Stufe der menschlichen Zivilisation und erwarten vom Rest der Welt, nach dem gleichen Modell zu leben. Diese missionarische Haltung ist in seiner letzten Konsequenz nichts anderes als struktureller Rassismus und eine moderne Variante des Neokolonialismus. Die außenpolitische Intoleranz gegenüber anderen politischen Kulturen steht im krassen Gegensatz zur Toleranz und Pflege kultureller Vielfalt im Innern. Dieser Widerspruch muss zwangsläufig zu Konflikten führen. Es ist höchste Zeit zur Rückbesinnung und Erinnerung an Erfahrungen aus der Vergangenheit. Sonst könnte aus der friedlichen Revolution von 1989 letztlich noch ein sicherheitspolitischer „Salto mortale“ werden.
Es scheint so, als ob gerade uns Deutschen das Bewusstsein und der Wille zur kritischen Sicht auf uns selbst verlorengehen. Als ehemaliger DDR-Bürger sehe ich mich da in meiner Empathiefähigkeit durchaus bevorteilt. Ich habe bis vor 30 Jahren unter den Bedingungen einer anderen politischen Kultur die Möglichkeit gehabt, die Bundesrepublik als Außenstehender zu betrachten. Ich habe selbst lange genug in einem autoritär geführten Staat gelebt und war zur kritischen Reflexion meiner Vergangenheit quasi aus existenziellen Gründen gezwungen. Der Hang zu Autoritarismus, Doppelmoral und Schönfärberei ist mir vertraut. Ich habe – wie viele Bürger der neuen Bundesländer – andere Lebenserfahrungen gemacht als die meisten meiner Landsleute im Westen. Diese Erfahrungen möchte ich heute keineswegs missen – ohne sie verklären zu wollen. Ich denke, das ist ein produktives Kapital, was es gerade in sicherheitspolitischer Hinsicht zu nutzen gilt.
Hochrüstung und Konfrontation sind ein Irrweg der Geschichte. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt sich daran zu erinnern, als den 30. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer – dem Symbol für das Ende des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation.