22. Jahrgang | Nummer 20 | 30. September 2019

Altersweisheit

von Peter Petras

Wenn man sich über den außenpolitischen Dilettantismus derzeitiger Politiker ärgert, hilft zuweilen der Blick auf das, was die Altvorderen hervorheben. Vor einem Jahr war der über 90jährige Hans Modrow, letzter sozialistischer Ministerpräsident der DDR und jetzt Vorsitzender des Ältestenrates der Partei Die Linke, zum zwölften Mal in der Volksrepublik China. Er hatte das Land zum ersten Mal Ende der 1950er Jahre besucht. Die erste Station 2018 war Beijing. Das Institut für internationale strategische Studien hatte ihn eingeladen, nicht nur, um mit ihm über praktische Erfahrungen in den Beziehungen zwischen der DDR und China zu reden, sondern um seine Einschätzung zu den Entwicklungen in Korea und in den internationalen Beziehungen zu hören. Was China anbetrifft, hatte Modrow schon früher betont, es sei „ein Land auf der Suche nach einem Weg zum Sozialismus, in dem alle Fragen der Gesellschaft harmonisch beantwortet werden. Ob man ihn findet, wird die Zeit zeigen. Gleichwohl: Die Welt wird ihren Nutzen davon haben.“ Egon Krenz, 1989 kurzzeitig Staatsratsvorsitzender der DDR, publizierte nach einem neuerlichen Besuch in China im Oktober 2017 ein kleines Buch zum Thema: „China. Wie ich es sehe“. Am Ende verweist er auf die „fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“, die der chinesische Ministerpräsident Zhou Enlai bereits 1954 entwickelt hatte, und die heute wieder Leitschnur der friedlichen chinesischen Außenpolitik unter Generalsekretär Xi Jinping sind.
Könnte man solche Äußerungen sozialistischer Politik-Veteranen noch als nostalgische Bekundungen mit autobiographischem Hintergrund abtun, so sollten die Mahnungen zu Frieden und Verständnis einst einflussreicher westlicher Staatsmänner doch zum Nachdenken anregen. Henry Kissinger hat als eines seiner beeindruckenden Alterswerke ein Buch über China geschrieben (englisches Original wie deutsche Übersetzung 2011), in dem er für gute Beziehungen zwischen den USA und China im 21. Jahrhundert plädiert. Gewiss, Kissinger war als Außenminister für den Sturz des chilenischen Präsidenten Salvador Allende 1973 und andere imperiale Gewaltakte der USA zu jener Zeit wesentlich mitverantwortlich. Er hatte aber auch den Friedensvertrag mit Vietnam sowie die Begrenzung der strategischen Rüstungen mit der Sowjetunion verhandelt und war maßgeblicher Architekt der Neugestaltung der Beziehungen der USA zur Volksrepublik China seit den 1970er Jahren. Er kennt seit jener Zeit das Land und seine entscheidenden Staatsmänner wie kaum ein anderer westlicher Politiker. Deshalb plädiert er dafür, China zu verstehen und es nicht durch eine westliche Politologenbrille zu betrachten.
Im „Prolog“ schreibt Kissinger: „Andere Gesellschaften, einschließlich der Vereinigten Staaten, beanspruchen universale Gültigkeit für ihre Werte und Institutionen. Aber keine kommt China darin gleich, dass es über einen so langen Zeitraum und angesichts zahlreicher historischer Schicksalsschläge auf einem erhabenen Verständnis seiner Rolle in der Welt beharrte […]. Von seiner Entstehung als vereinigter Staat im 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum Zusammenbruch der Qing-Dynastie im Jahr 1912 stand China mit bemerkenswerter Dauerhaftigkeit im Zentrum des ostasiatischen internationalen Systems.“ Und weiter: „Die traditionelle chinesische Kosmologie überstand Katastrophen und jahrhundertelange Perioden des politischen Zerfalls. Selbst wenn China schwach und gespalten war, blieb es […] der Maßstab für regionale Legitimität.“ Deshalb seine strategische Folgerung: „Jeder Versuch, Chinas Diplomatie im 20. Jahrhundert oder seine Weltrolle im 21. Jahrhundert zu verstehen, muss […] mit einer grundlegenden Würdigung des traditionellen Kontextes beginnen.“
Helmut Schmidt, 1974 bis 1982 fünfter Bundeskanzler der BRD, war seit den 1970er Jahren ebenfalls mehrmals in China, hatte beim Besuch als Bundeskanzler in China 1975 auch noch Mao Zedong getroffen. Intensive Gespräche führte er mit Deng Xiaoping, der China in den 1970er Jahren auf den Reformkurs gebracht hatte, dessen Früchte das Land jetzt erntet. Eine „letzte Reise“ führte den 93jährigen Schmidt im Mai 2012 ein Mal nach Peking sowie nach Singapur, um lange Gespräche mit dem langjährigen Ministerpräsidenten Singapurs (1959-1990), Lee Kuan Yew, zu führen, in denen es auch vor allem um China ging. Diese Gespräche in Singapur wurden aufgezeichnet und in Schmidts Buch: „Ein letzter Besuch“ publiziert, versehen mit einer Einführung Schmidts und seiner Notiz über ein Treffen, das er im Mai 1990 in Peking mit Deng hatte.
Schmidt betont drei Punkte „für ein friedliches und kooperatives Nebeneinander“ zwischen dem Westen und China: „Erstens: Verzicht auf westliche Überheblichkeit, stattdessen Respekt gegenüber der ältesten Kulturnation der Welt. Zweitens: Volle Einbeziehung Chinas als gleichberechtigter Partner in alle multinationalen Organisationen, in denen globale Fragen – Wirtschaft, Finanzen, Klima, Abrüstung – verhandelt werden. Drittens: Keine Widerstände gegen die zu erwartende Annäherung Taiwans an die Volksrepublik China“. Westliche Politiker müssten vor allem begreifen, „dass harter Wettbewerb und politische Zusammenarbeit sich keineswegs gegenseitig ausschließen“. Der Westen könne ohnehin „den weiteren ökonomischen und technologischen Aufstieg Chinas nicht verhindern, schon gar nicht, indem er sich der politischen Zusammenarbeit verweigert oder politischen Druck auszuüben versucht. […] Westliche Politiker sollten Abstand davon nehmen, nach Peking zu reisen, um der dortigen Führung Belehrungen in Menschenrechtsfragen zu erteilen.“
Zur Frage der Universalität der Menschenrechte gab es einen aufschlussreichen Dialog zwischen Schmidt und Lee, der ja selbst Chinese, Chinese aus Singapur ist. Lee sagte: „Das Recht des Einzelnen, sein Leben zu gestalten, wie er es will, das Recht des Einzelnen auf Sicherheit für sich und seine Familie, das Recht des Einzelnen auf Arbeit, Bildung, medizinische Versorgung und Schulen – das, denke ich, würden die Chinesen akzeptieren. Aber das Recht des Bürgers, vor ein Gericht gestellt zu werden, bevor man ihn verurteilt und wegsperrt, ist ein Recht, das sie nicht begreifen. Sie entscheiden, ob man eine Gefahr darstellt, und dann sperren sie einen weg.“ Lee hatte in Großbritannien Jura studiert und wusste genau, was er hier sagte. Schmidt betonte, es strikt zu unterlassen, sich „in einem anderen Land einzumischen, um die Rechte seiner Bewohner zu verteidigen“. Deshalb sei das in der UNO diskutiert Schlagwort von einer „Responsibility to Protect“, einer „Schutzverantwortung“ falsch. Eine solche berge die Gefahr, keine Grenze zu akzeptieren. Lee ergänzte: „Wie man in Libyen sieht, bekommt man es, wenn man einen Diktator mit Luftangriffen erledigt, mit vielen kleinen Militärführern zu tun, von denen jeder zum Diktator wird.“
Die Politik der derzeitigen Regierungen in Washington, Berlin und anderswo steht den Warnungen von Kissinger und Schmidt diametral entgegen. Zumal es Trump in Sachen Hongkong ja nicht wirklich um irgendwelche Rechte geht, sondern um die Verstärkung des Drucks in seinem Handelskrieg gegen China. Deutschland sollte hier nicht assistieren.