von Klaus Joachim Herrmann
„Wir haben den Geschmack von richtigem Parmesan vergessen“, klagt das russische Internetportal gaseta.ru. Die russischen Bürger wussten auch polnische Äpfel durchaus zu schätzen, doch dann war Schluss. Im Sommer vor fünf Jahren konterte Präsident Wladimir Putin per Erlass westliche Sanktionen wegen des russischen Eingreifens auf der Krim. Französischer Käse, spanischer Serranoschinken und viele andere Importlebensmittel – mit Fisch, Fleisch, Obst, Gemüse, Nüssen oder Salz beileibe nicht nur Spezialitäten – wurden von den Einfuhrlisten gestrichen. Als Jubiläum eigener Art beging Russland am 6. August das im Jahre 2014 verhängte und vorerst bis Ende 2020 verlängerte Embargo gegen Lieferungen aus der EU und den USA. Es geht um russische wohlgemerkt, nicht die westlichen Sanktionen. Schließlich gehört zum Moskauer Selbstverständnis, mit eigenen Maßnahmen Souveränität zu demonstrieren. „Je stärker der Druck“, singt der vaterländische Popstar Oleg Gasmanow, „desto härter der Beton.“
Beim ersten Blick in Moskauer Super- und andere Märkte fallen dem unbefangenen Besucher Lücken nicht auf. Schon gar nicht ist die Fülle des Angebotes vergleichbar mit den als „Pustynja“ (Wüste) berüchtigten Regalen der späten Perestroika Michail Gorbatschows oder dem chaotischen Durcheinander des Aufbruchs in die wilde Marktwirtschaft der 1990er Jahre mit Boris Jelzin an der Spitze. Doch das Ergebnis des in den allgemeinen Sprachgebrauch als „Sankzionka“ eingegangenen Konters des heutigen Kremlchefs Wladimir Putin gegen die 28 EU-Mitglieder, die USA, Australien, Norwegen, Kanada und ein knappes halbes Dutzend weitere Staaten fällt durchwachsen aus. Die Moskauer Obrigkeit verweist gern auf einen Milliardenschaden für die blockierten Lieferanten, den sich deren eigene Staatsführungen mit ihren antirussischen Sanktionen selbst zuzuschreiben hätten. Die EU ihrerseits beruhigt, die Gemeinschaft habe sich nach einigen Schwierigkeiten den Bedingungen des Embargos angepasst und mit einer Exportsteigerung um knapp 15 Prozent bis 2018 neue Märkte erschlossen.
Den eigenen Markt könne Russland nun faktisch vollständig mit Getreide, Fleisch und Zucker selbst versorgen, frohlockt man derweil in Moskau. Die Zeitschrift Wedomosti erläutert, das Lebensmittelembargo sei „nicht nur als Antwort auf die westlichen Sanktionen, sondern auch als Chance für die russischen Produzenten gedacht gewesen, den frei werdenden Markt zu besetzen“. Die Produktion von Schweinefleisch sei gegenüber 2013 um ein Drittel gestiegen, ähnlich sehe es bei Käse oder Trockenmilch aus. Bei Tomaten oder Gurken, ebenso bei Äpfeln gebe es ein Plus von 70 bis 80 Prozent in den vergangenen fünf Jahren. Nach Angaben des Landwirtschaftsministeriums betrug 2018 die Versorgung des Binnenmarktes mit Getreide 99,4 Prozent, bei Fleisch und dessen Produkten 92,8 und bei Zucker 95,7 Prozent. Der Import von Lebensmitteln sei von 43,3 Milliarden Dollar im Jahr 2013 auf 29,8 Milliarden Dollar im Jahre 2018 zurückgegangen.
„Länder, die Sanktionen verhängen, verlieren unseren Markt“, hatte Putin mehrfach gewarnt. Russlands Produzenten seien durch die Sanktionen sogar „in mehreren Richtungen mobilisiert“ worden. „Wir müssen stärker werden“, antwortet der Präsident immer wieder auf wirkliche oder vermeintliche Herausforderungen. Das meint nicht nur das Ankurbeln der Rüstungsproduktion und die Demonstration modernster Waffen, nicht nur die Befestigung der Staatsmacht gegen als feindselige Herausforderung gedeutete Kritik von Opponenten, sondern eben auch Rückkehr zur Selbstversorgung in einer feindlichen Welt. Wer hätte zu Zeiten der unter chronischen Missernten leidenden Sowjetunion für möglich gehalten, dass Russland in der Welt zum größten Exporteur von Getreide aufsteigen könne? Mittelfristig sieht sich Russland unter den zehn größten Exporteuren von Lebensmitteln und will dafür über 400 Milliarden Rubel investieren.
Als Verlierer der neuen Stärke macht die Chefin des Zentrums für landwirtschaftliche Politik, Natalja Schagajda, vor allem den „normalen Russen“ aus. Er zahle bei einem seit sechs Jahren sinkenden und sich nur langsam wieder erholenden Realeinkommen den gestiegenen Preis. So betrug die Inflation bei Lebensmitteln 15,6 Prozent allein im Jahr 2014, ein Jahr darauf 14 Prozent. Es habe Perioden gegeben, in denen sich Fleisch wöchentlich um ein Prozent verteuert habe, rechnete die Expertin in Wedomosti vor. Der Preisanstieg des statistischen Warenkorbes wird unter Hinweis auf das Embargo für jedes Jahr mit vier bis fünf Prozent beziffert.
Zudem seien Qualität und Geschmack vieler heimischer Produkte, die Importe ersetzen sollen, durchaus verbesserungswürdig. Einen konkurrenzfähigen Parmesan habe Russland weder jetzt noch in den nächsten Jahren zu bieten, klagt ein Petersburger Chefkoch in Argumenty i Fakty. Dessen Produktion sei eben ein unglaublich langer und komplizierter Prozess. 2014 sei die Lage freilich katastrophal gewesen, mit den Kontersanktionen habe damals das Restaurant gut die Hälfte seiner Zutaten für eine gehobene Küche eingebüßt. Jetzt könne man vergleichbare Produkte von heimischen Produzenten beziehen, doch diese würden angesichts der ausgeschalteten Konkurrenz ständig die Preise erhöhen. So murrt denn auch der Chefkoch von „Salz&Seele“, dass Produzenten, die für schlechteren Käse als das italienische Original den gleichen Preis einfordern, dies mit ihrem Gewissen abmachen sollten.
Wenngleich gern gegessen, so ist doch Parmesankäse nicht zuerst entscheidend für die sichere Versorgung des 145-Millionen-Volkes im größten Land der Erde. Doch auch darum geht es. Noch nach jeder Versicherung, er wolle den Dialog und eine Verbesserung der Beziehungen mit Russland, verschärfte US-Präsident Donald Trump bestehende oder verhängte neue Sanktionen. Seit März 2014 ergriff die EU offiziell „als Reaktion auf die illegale Annexion der Krim und die vorsätzliche Destabilisierung eines unabhängigen Nachbarlandes“ gegen Russland „restriktive Maßnahmen“. Deren Liste ist lang und wird stets noch länger. Kaum ein Übel, für das nicht Moskau als verantwortlich herhalten soll, von Iran vielleicht einmal abgesehen. Mit den USA, die in der Welt und im Welthandel um keinen Preis Positionen preisgeben will, ist sich der europäische Staatenbund bei wechselnden Begründungen oder Vorwänden trotz mancher anderer Differenzen darin durchaus einig. Gerade die Briten verstehen sich dabei seit langem dankbar als der transatlantische Juniorpartner. Sie waren für den von Washington herbei gelogenen Krieg im Irak bedenkenlos bereit. Heute liefern sie mehr lärmend als schlüssig die – allerdings wirklich fast tödliche – Räuberpistole um die Vergiftung des gewesenen Doppelagenten Sergej Skripal und seiner Tochter. Unter Bezug darauf feiert bei den Sanktionen am 27. August ein weiteres Paket einjähriges Jubiläum, ein zweites tritt am 26. August in Kraft.
Als hätte das Zusammenleben nicht schon genug gelitten, werden vom Weißen Haus und im Gegenzug vom Kreml auch noch Abrüstungsverträge aufgekündigt. Die Schlachtrufe des Kalten Krieges von Big Stick bis Rollback erleben ihr Comeback. Die deutsche Bundeswehr zog 2017 nach eigenen Angaben mit 450 Soldaten und Schützen-, Kampf- und Transportpanzern ins Baltikum. Nach dem netten Motto der Musketiere von Alexandre Dumas „Einer für alle, alle für einen“, meint die Bundeswehr, seien gemeinsame Übungen mit litauischen Truppen „der beste Weg, um Konflikte zu vermeiden“. Moskau sieht das schon aus historischen Gründen anders und die NATO an den eigenen Grenzen als Bedrohung. So rüstet es ebenfalls und testet – gerade zuletzt nicht immer erfolgreich – unverwundbare Super-Raketen.
Ohne die westlichen Sanktionen wäre alles noch viel schlimmer, behaupten deren Wortführer. Doch keines der Probleme, derentwegen Russland „bestraft“ wird, konnte gelöst werden.
Längst geht dort das Wort vom „Sanktionskrieg“ um. Darin habe Russland auf dem Gebiet der Lebensmittel und damit der Versorgungssicherheit nun selbst eine Schlacht siegreich geschlagen, versichern die dafür Verantwortlichen. Die hat nicht nur großen propagandistischen Wert für Putins nunmehr rund 20 Jahre währende Regentschaft, sondern auch strategische Bedeutung. Dazu passt eine beispiellose Aufstockung der Goldreserven um hunderte Tonnen des noch 1999 unmittelbar vor Pleite und Zusammenbruch stehenden Riesenlandes. Gold ist nicht mit Sanktionen zu belegen, stärkt das Vertrauen in den Rubel und sichert gegen Schwankungen des ungeliebten Dollars. „Zum ersten Mal in unserer Geschichte decken unsere Reserven die gesamte Auslandsverschuldung, sowohl staatliche als auch private ab“, versichert Präsident Putin stolz – allemal ein Trumpf im Sanktionskrieg. Denn der wird fortgesetzt.
Schlagwörter: Goldreserven, Klaus Joachim Herrmann, Russland, Sanktionen, Versorgungssicherheit