von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Doris-Day-Püppchen, ein Dachpappenfilmstudio sowie aufklärende Sätze über Illusionsbildung und Subjektkonstitution.
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Immer wieder wundert man sich über Theater-Jurys; nicht nur über die des Berliner Theatertreffens. In London beispielsweise erhielt Laura Wade den diesjährigen Laurence-Olivier-Award für ihre Komödie „Home, I’m Darling“. Prompt brachte sie die Kudamm-Komödie im Berliner Schillertheater, ihrer Interims-Residenz, als deutsche Erstaufführung heraus. Doch man fragt sich: Warum?
Um es gleich zu sagen, das Lustspiel „Zuhause bin ich Darling“ ist unlustig, ja grottendämlich. Vielleicht dachten die Award-Juroren, da steckt Me-Too drin, Nostalgie-Kritik, Ehezwist mit Eifersucht, brutaler beruflicher Leistungsdruck, kapitalistische Ausbeutung, soziale Existenznot oder Abstiegsangst – und all das hübsch verpackt im Look der 1950er Jahre (Nierentisch, Petticoat) sowie garniert mit Hits von Bill Haley, Buddy Holly, Elvis Presley et cetera.
Klingt erst mal nicht schlecht, sogar ein bisschen nach Musical, wäre da nicht das über zwei Stunden ausgewalzte Grundkonstrukt: Eine junge Frau Ende dreißig (Judith Richter), gut verdienende Akademikerin, schmeißt alles hin, um fortan als totales Heimchen am Herd abzutauchen in eine nostalgische Doris-Day-Welt, wo sie ihrem Gatten (Niklas Kohrt) zum Feierabend die Pantoffeln hinstellt und, frisch frisiert, den Cocktail zur Entspannung vom Immobiliengeschäft serviert. Auch das Interieur vom Hypotheken-Häuschen glänzt im Retro der Fifties und ist hochglanzgewienert – „Putzen ist der Hausfrau Leidenschaft“.
Als ironisch verspielte Marotte mag derartiges durchgehen. Doch das junge Paar hat sich todernst verkrampft ins rosarote Glück im Fantasie-Präteritum, in das nervtötend vorsichtig die sozialen, finanziellen und emotionalen Probleme der gar nicht rosaroten Gegenwart tropfen. Dafür wiederum sind vier nüchtern geerdete Kontrast-Personen zuständig: Eine Ex-Hippie-Mama (Beatrice Richter), eine Immobilien-Domina (Natalie Mukherjee) und ein befreundetes Ehepaar (Katrin Hauptmann, Bürger Lars Dietrich).
Doch bevor sich die Schwierigkeiten mit dem realen Leben minimal zuspitzen können, werden sie, wie in jedem braven Komödienstadel, flugs in Luft aufgelöst. Bis es soweit ist klappert freilich unentwegt die Plappermaschine, deren bedauernswertes Bedienpersonal sich mit bewundernswertem Furor ins Zeug wirft, dabei notdürftig betreut von Routine-Regisseur Philippe Besson.
Immerhin wird der weltfremde Quatsch reichlich aufgerüscht mit Tanzeinlagen sowie vielen herrlich wippenden Kleidern. In einem solchen philosophiert unser Darling-Püppchen: „Brauche ich für ein erfülltes Leben einen Job?“ – Verklärten Blicks wedelt es sogleich mit der gedruckten Antwort in der Hand. Es ist seine Bibel – die Housekeeping Monthly, Ausgabe Monat Mai anno 1955.
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Das erste in der Welt gebaute Filmstudio stand in New Jersey und wurde 1893 zusammengebastelt aus schwarzer Teerpappe, beweglich mit abhebbarem Dach, um es nach der Sonne hin drehen zu können. Man nannte es nach dem damals berühmtesten Rennpferd „Black Maria“.
Der monomanische Vielschreiber René Pollesch wurde berühmt durch seine Gebirge hoch komplizierter Theorie-Texte philosophisch-sozialer, kulturwissenschaftlicher, ästhetik- oder kunstwissenschaftlicher Art. Mittlerweile ist René, Dauer-Darling der Szene, zwar in die Jahre gekommen, sein postdramatisches Strickmuster wird jedoch nach wie vor überall geradezu hysterisch beklatscht. So auch die im Deutschen Theater zu Berlin abgespulte Pollesch-Show „Black Maria“.
Dafür hat sich der rege Kopf mit den glühenden Laptop-Tasten unter den Fingern ein bewegliches Dachpappenstudio auf der Drehbühne der Kammerspiele nachbauen lassen (tolle Werkstatt). Die Hülle für sein auf alte Art neuestes Wortgewitter der Abstraktion, das der Einfachheit halber eben gleich „Black Maria“ heißt.
Durch dieses Pappdings hindurch oder um es herum toben unaufhörlich schwatzend die tollen DT-Sprechautomaten, meist schlabbernd kostümiert, gelegentlich aber auch im geilen Glitzer-Look. Dazu gelegentlich Nebel aus der portablen Nebelmaschine, ein bisschen Video und süffiger Italo-Pop.
Aber worum geht es? Kaum jemand im wie üblich heftig grölenden Premierenpublikum könnte es wohl sagen. – Was man mit viel gutem Willen diversen Stichworten entnehmen könnte: Es geht gegen das Repräsentationstheater, gegen Erzählung, Drama (also gegen eher leichter Verständliches). Für das alles wird eine „neue optische Politik“ gefordert. Doch was könnte das sein? Verrückterweise (Dialektik?) das Nicht-Transparente, das Undeutliche, Verwischte, das Übermalte, Überschriebene, wie es – da liegt Pollesch ganz auf Linie – unsere aktuellen Hochmeister der Bühnenästhetik (Theatertreffen-Juroren und -Innen) energisch einfordern als das neu Poetische.
„In einem Regime der Überdeutlichkeit, der Erhellung, des Realismus also, ist der weiße Mann ja unsichtbar. Es gibt einen Blick, der bestrebt ist, zu repräsentieren und zugleich der Repräsentation zu entgehen, und der will auch die vollkommen transparente Vermittlung der Welt. Aber gegen die Gefräßigkeit des Auges ginge es ja gerade darum, ‚nicht sichtbar‘ zu sein …“ – Alles klar?
Alles sichtbar trotz besagter Gefräßigkeit? Trotz der wie das Rennpferd Black Maria dahin rasenden Sätze! Fragen werden in diesem Theater natürlich nicht beantwortet. Keine Deutlichkeit. Immerhin liefert der Programmzettel Literaturhinweise: Gilles Deleuze, Donna Haraway, Brigitta Kuster; hat ja jeder im Spind.
Ach ja, dann gibt es noch die ständigen Verweise auf einen ominösen „Knacks“. Man darf ahnen, es geht dabei – inmitten des Theoriegedöns – um etwas strikt Individuelles. Knacks, klingt lustig. Dabei ist „Knacks“, wer denn gebildet genug ist, es zu wissen, ein Buch von F. Scott Fitzgerald. In dem geht es um elend geisteskrankes Verdämmern. Ein bitterer Text. Gar nicht lustig.
Ansonsten wird fleißig gealbert in diesem knapp 90 Minuten sich hinziehenden Pollesch-Hahaha. Oder ist alles todernst? Dagegen wiederum spricht das herzwohlig trällernde Bella-Schnulzen-Italia, wenigstens das.
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Beständig wird öffentlich geredet über immersives Theater; auch von René Pollesch, dem frisch designierten Intendanten der Berliner Volksbühne und Nachfolger vom geschassten Chris Dercon sowie vom vergötterten Frank Castorf. Was aber ist das eigentlich im Vergleich mit einem ansonsten ganz einfach packenden Theatererlebnis? Dieser schlichten Frage geht der Theaterwissenschaftler Nikolaus Müller-Schöll theoretisch nach, abgedruckt in der März-Ausgabe des tonangebenden Fachmagazins Theater heute. – Hier zur gefälligen Belehrung ein kleiner Auszug aus dem Essay, der auch irgendwie passt zu einem Regisseur wie Pollesch, der wie viele andere die angesagten postdramatischen Theaterformen gern heftig zum Einsatz bringt.
Müller-Schöll: „Immersion, so könnte man sagen, ist in der Illusionsbildung wie in der Subjektkonstitution der Moment ihrer Ausbildung wie ihrer Aufhebung: Was eine Vorstellung bilden lässt, deren illusionären Charakter wir erkennen. Was die Illusion stört, ohne dass wir uns ihrer gleichwohl ganz entledigen können. Dieses Osszillieren verändert sich nicht prinzipiell, wenn wir statt des Einfühlungs- und Illusionstheaters in der Tradition des 18. Jahrhunderts das sogenannte ‚immersive theatre‘ betrachten. Hier wie da ist die Immersion eine Illusion – die sich auflöst, wenn wir körperlich leidend, die Maske abnehmen, gegen die Spielregeln verstoßen oder auch nur statt auf den vorgestellten Referenten auf die Art und Weise seiner Vorstellung sehen, wenn wir also so oder so den imaginären Pakt auflösen, der uns mit den Spielern und ihren Produzenten verbindet …
Die Immersion ist als Fantasma immer nur momentan denkbar, als reizvoller oder störender Widerstand gegen das Wissen, vorübergehende Regression in Infantilität oder Idiotie, und dies nicht, weil die technischen Hilfsmittel nicht hinreichend waren oder ein Fehler gemacht wurde, sondern vielmehr, weil es gerade die Unmöglichkeit des totalen Eintauchens ist, die das Begehren immer wieder von Neuem begründet und weiter treibt.“ – Auch hier die Frage: Alles klar?
Schlagwörter: Kammerspiele Berlin, Kudamm-Komödie, Nikolaus Müller-Schöll, Querbeet, Reinhard Wengierek, René Pollesch, Theater heute