von Wilfried Schreiber
Man kann diesen Sammelband auch als Lehrbuch für die Friedensbewegung bezeichnen – ein Lehrbuch ohne vordergründige Belehrungsabsicht, aber mit der kategorischen Forderung nach Konfliktvermeidung und Krisenprävention, nach Abrüstung und Rüstungskontrolle: „Weil die Politik es nicht schafft oder nicht schaffen will, ist eine starke Friedensbewegung notwendig – bei uns, in Europa, weltweit.“ Das könnte als Motto des Buches gelten.
Locker und lesbar werden quasi alle Seiten der Friedensfrage behandelt, wie sie in Deutschland und Europa objektiv steht, kritisch und konstruktiv, keineswegs nur pazifistisch, aber konsequent antimilitaristisch.
Im Zentrum stehen die Aussagen zweier parteiübergreifender Initiativen: der internationalen Initiative „Für eine neue Entspannungspolitik. Jetzt!“, deren Aufruf in Deutschland erstmals im Dezember 2016 erschien, und des im Herbst 2017 veröffentlichten Aufrufs „abrüsten statt aufrüsten“, der über 150.000 Unterzeichner gefunden hat. Die meisten Medien haben beide Aufrufe bisher weitgehend ignoriert. In diesem Buch werden sie vorgestellt, erläutert und inhaltlich vertieft. Die meisten internationalen Beiträge des Sammelbandes sind auf der Website der Initiative „Für eine neue Entspannungspolitik. Jetzt!“ nachzulesen. Die Verantwortlichen für die Website, Wolfgang Biermann, Peter Brandt und Michael Müller, sind selbst mit mehreren Beiträgen vertreten.
51 Autoren kommen zu Wort. Bekannte Namen aus Politik, Wissenschaft, Kirche, Kunst und Kultur sind dabei: Horst Teltschik (ehemaliger Sicherheitsberater Helmut Kohls), Gernot Erler, Sigmar Gabriel, Matthias Platzeck, Rolf Mützenich, Jürgen Trittin, Anton Hofreiter, Alexander Neu, Sahra Wagenknecht, Frank Bsirske, Reiner Braun, Götz Neuneck, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Daniela Dahn, auch Blättchen-Redakteur Wolfgang Schwarz. Bemerkenswert auch internationale Autoren wie Michail Gorbatschow, Daniel Ellsberg oder Alexej Arbatow.
Das Buch ist in zwei Hauptteile gegliedert: Der erste, kürzere beschäftigt sich im Wesentlichen mit historischen Erfahrungen aus zwei Weltkriegen, aber auch aus verschiedenen Phasen der späteren Entspannungspolitik. Begonnen wird mit dem Ersten Weltkrieg als „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Die zügellose Eskalation der Gewalt im Zweiten Weltkrieg und tendenziell bis in die Gegenwart ist darin bereits in ihrem Wesen erkennbar. Die Industrialisierung der Kriege, ihre Entgrenzung und ihre Unkalkulierbarkeit, die moralische Indoktrinierung der Bevölkerung durch Kriegspropaganda – all diese Tendenzen haben in der Gegenwart neue Dimensionen angenommen.
Autoren, die sich mit den Erfahrungen der Entspannungspolitik beschäftigen, spannen den Bogen von der deutschen Außenpolitik der 20er Jahre (Rapallo 1921) bis ins Heute. Eine zentrale Rolle wird der Entspannungspolitik Willy Brandts sowie der realen Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik beigemessen. Beachtung verdienen aber auch die Erfahrungen der verpassten Gelegenheiten, die insbesondere in der Zeit nach der Charta von Paris (1990) gemacht wurden, als im Westen der Irrtum grassierte, das „Ende der Geschichte“ sei erreicht. Angesichts der Großmachtpolitik eines Donald Trump und neu aufstrebender Mächte sowie des Zerbrechens des bisherigen Rüstungskontrollregimes treibt die Autoren vor allem die Sorge, dass alle Erfahrungen der leidvollen Vergangenheit in Vergessenheit geraten könnten.
Insofern ist vor allem der zweite Teil des Buches von Bedeutung, in dem sechs Aktionsfelder umrissen werden, die zentrale Fragen deutscher und europäischer Friedenspolitik betreffen.
Unter der etwas verschwommenen Überschrift „alte und neue Kriegsgefahren“ werden zunächst vor allem Fehler und Schwächen traditioneller Sicherheitspolitik des Westens behandelt – die Folgen der endlosen Kriege in Afghanistan, Irak, Syrien, aber auch des „Kriegs gegen den Terror“, die Lügen und Provokationen um diese Kriege, aber auch Schwächen und Krisen internationaler Organisationen wie EU, NATO, UNO und OSZE. Daraus resultiert eine Destabilisierung der internationalen Situation mit hohem Eskalationspotenzial. Mit „neuen Kriegsgefahren“ sind vor allem die komplexen Zusammenhänge zwischen Umweltveränderungen und Gewaltkonflikten gemeint, aber auch existenzbedrohende Risiken, die sich aus neuen technischen Entwicklungen ergeben können, beispielsweise durch gentechnische Verfahren im Umgang mit Pflanze, Tier und Mensch sowie durch den besinnungslosen Einsatz künstlicher Intelligenz (KI).
Das zweite Aktionsfeld steht unter dem Motto „Abrüstung jetzt“ und umfasst die Auseinandersetzung um Hochrüstung, Rüstungskontrolle und Abrüstung. Ausgehend von den Gefahren ungezügelter Hochrüstung, bis hin zur Auslösung einer Klimakatastrophe durch den „nuklearen Winter“, setzen sich die Autoren insbesondere mit den von der NATO angestrebten Rüstungsausgaben von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und den Konsequenzen auseinander. Vorgestellt werden Stellungnahmen von Gewerkschaften, Parteien, christlichen Kirchen und verschiedenen NGOs der Friedensbewegung sowie konkrete Beispiele für Projekte, Akteure und Kampfformen.
Der Abschnitt zum dritten Aktionsfeld behandelt unter der Überschrift „Die Krise um den INF-Vertrag“ einen spezifischen Aspekt des Rüstungsproblems. Dieser Abschnitt ist zwar relativ kurz, aber politisch umso bedeutsamer. Es geht schließlich um den Zusammenbruch Rüstungskontrollregimes für Kernwaffen. Die deutschen Mainstreammedien erwecken zwar den Anschein, als sei daran allein die Russische Föderation schuld und nicht die USA, die den Vertrag einseitig aufgekündigt haben. Insbesondere Gorbatschow und Arbatow stellen jedoch klar, dass es sich um einen langfristig angelegten Plan Washingtons handelt, „sich von jeglichen Beschränkungen seiner Waffen zu befreien und eine absolute militärische Überlegenheit zu erreichen.“ Insbesondere verweisen sie auf die Weigerung der USA, den Vertrag über das umfassende Verbot von Waffentests (CTBT) zu ratifizieren, und auf die einseitige Kündigung des Vertrags zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) bereits im Jahre 2002.
Das vierte Aktionsfeld trägt den Titel „Entspannungspolitik – Jetzt!“ Mit originellen Gedanken wird hier eine Verbindung der europäischen Sicherheit mit grundlegenden Menschheitsproblemen hergestellt. Trittin betont in diesem Zusammenhang: „Keine der großen Krisen – seien sie ökonomisch, ökologisch oder sicherheitspolitisch – lässt sich unilateral lösen.“ Er fordert „neue Allianzen mit sehr unterschiedlichen Kräften“. Teltschik empfiehlt „eine breite und parteiübergreifende Debatte über Entspannungspolitik, um die Konfrontation in Europa zu beenden“. Mehrere Autoren verweisen auf den Zusammenhang zwischen Kriegen und Umweltproblemen. Klimaveränderungen werden als eine entscheidende Ursache für Flucht und Vertreibung behandelt. Kai Niebert schreibt daher: „Klimapolitik […] ist vor allem eines: Friedens- und Sicherheitspolitik.“
Das fünfte Aktionsfeld betrifft die Rolle der EU als Friedensprojekt. Alle Autoren setzen einen Friedensauftrag des europäischen Integrationsprozesses voraus. Einerseits wird aufgezeigt, dass und wie dieses Friedensprojekt gegenwärtig gefährdet ist: durch Militarisierung und Konfrontationspolitik nach außen; durch zunehmenden Rechtspopulismus und Nationalismus in zahlreichen EU-Staaten, durch die soziale Ungleichheit und den wachsenden Widerspruch zwischen Arm und Reich. Andererseits weisen die Autoren den Weg für eine Alternative zu diesen Gefährdungen durch Demilitarisierung und den Aufbau gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen, eine Politik des Interessenausgleichs, des Dialogs und der Solidarität, durch eine Konzentration der Politik auf mehr Demokratie, Wohlstand, sozialen Fortschritt und ökologische Nachhaltigkeit. Zu dieser Alternative gehören auch die Stärkung der Institutionen der EU, die Stärkung der Rolle der Vereinten Nationen und des Völkerrechts sowie die Stärkung der OSZE als Basis und Bestandteile einer aktiven Friedenspolitik der EU.
Das sechste Feld der Friedenspolitik sind die Beziehungen der EU zu Russland. Die Herausgeber sehen darin offensichtlich eine Schlüsselfrage, aber auch einen entscheidenden Streitpunkt in der Friedensbewegung. Weitgehende Übereinstimmung herrscht darin, dass Frieden und Sicherheit in Europa nur unter Einbeziehung Russlands möglich sind. Am prägnantesten bringt das Matthias Platzeck zum Ausdruck: „Die Macht im Osten mit einer Politik der Stärke in die Knie zwingen zu wollen, ist eine wahnwitzige Illusion – ein Blick ins Geschichtsbuch genügt, um das festzustellen. […] Richten wir den Blick auf die gemeinsamen Interessen – die Schnittmenge ist groß.“ Die meisten Autoren plädieren pragmatisch dafür, die enge wirtschaftliche Verflechtung und das große Handelsvolumen mit Russland als Basis für eine Politik des Dialogs und der Vertrauensbildung zu nutzen. Allerdings dürfe es auch keine Vereinbarung zu Lasten von Polen und Balten geben. Als Rahmen für eine solche Politik des Dialogs wird insbesondere die Ebene der OSZE gesehen.
Fazit des Buches: Bedingungen und Aufgaben für die Friedensbewegung haben sich grundlegend geändert. Sie sind komplexer, komplizierter geworden. Die Friedensbewegung muss sich inhaltlich und organisatorisch breiter aufstellen als in den 1980er Jahren. Sie kann heute nur erfolgreich sein, wenn sie sich als Sammlungsbewegung über alle sozialen Schranken und Parteigrenzen hinweg versteht – schwerpunktorientiert und projektbezogen. Gerade für die Friedensbewegung gilt: Es gibt keine erfolgreiche Bündnispolitik ohne kleine Schritte und ohne Kompromisse.
Peter Brandt, Reiner Braun, Michael Müller (Hrsg.): Frieden! Jetzt! Überall! Westend Verlag, Frankfurt/Main 2019, 336 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: Abrüstung, Entspannung, Frieden, Friedensbewegung, Wilfried Schreiber