22. Jahrgang | Nummer 16 | 5. August 2019

Nach Białystok

von Jan Opal, Gniezno

Vor vier Jahren warfen Polens Nationalkonservative die nach Europa ziehenden Flüchtlinge aus dem Nahen Osten als eine Art Schreckgespenst in die Wahlschlacht. Die damalige Regierung hatte angekündigt, wenigstens einige wenige Tausend geflüchteter Menschen nach Polen einlassen zu wollen. Sofort setzte fürchterliches Geschrei ein, denn Jarosław Kaczyński und andere witterten in diesem Vorhaben den gefährlichen Angriff auf das christliche Fundament des Gemeinwesens. Der amtierenden Regierung wurde vorgeworfen, die nationale Identität und die nationale Souveränität Polens aufs Spiel zu setzen.
Im Herbst dieses Jahres wird wieder gewählt, wieder stehen Parlamentswahlen an, die aus Sicht der Nationalkonservativen die Alleinregierung bestätigen mögen. Und wieder ist ein Schreckgespenst zur Hand, das geeignet scheint, mit dessen zielgerichteter Bekämpfung beim Wahlvolk den Ruf zu stählen, Polens wahrer Behüter von Freiheit, Identität und Souveränität zu sein. Diesmal sind es nicht ein paar Tausend Flüchtlinge, die kommen sollen, diesmal sind es Lesben und Schwule, deren geschätzte Anzahl in Polen eine Million in jedem Fall übersteigt.
Seit Wochen läuft nun in den nationalkonservativen Gazetten ein Feldzug gegen die LGBTI-Ideologie, wie es im nationalkonservativen Jargon jetzt heißt. Flankiert wird die Kampagne durch kräftige Unterstützung von großen Teilen der katholischen Kirche. Kaczyński spricht kryptisch von einer großen Offensive des Bösen, die nun auf das Land zurolle. Von den Kirchenkanzeln hingegen heißt es, dass mit schillernden Worten wie Modernität, Freiheit und Toleranz die Kräfte sich tarnten, mit der die Wurzel ausgerissen werde, aus der die christliche Zivilisation erwachsen sei. Fast klingt es so, als hätten Polens Nationalkonservative nie einen gefährlicheren Feind zur Strecke bringen müssen.
Was an schrecklicher Tat machen sich Polens Lesben und Schwule in diesem Wahljahr nun schuldig? Sie nehmen ihre Meinungsfreiheit in Anspruch, organisieren und versammeln sich. Im Unterschied zu vorhergehenden Jahren finden die friedlichen, bunten Straßenumzüge im Zeichen der Regenbogenfahne allerdings nicht mehr nur in wenigen Großstädten, sondern zunehmend auch in der Provinz statt. Gefordert werden die rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und überhaupt größere Toleranz im öffentlichen Meinungsbild.
Das nun ruft die Gegner auf den Plan, die einen gewaltigen Angriff auf das Polen, wie sie es verstehen, an die Wand malen. LGBT sei keine Minderheit, heißt es in einem führenden nationalkonservativen Blatt, sondern eine Weltanschauung, die alle Eigenschaften von totalitärer Ideologie habe: Sie verspotte den Glauben, attackiere die Glaubenstempel und erniedrige die Katholiken. Wie der Kommunismus wolle auch die LGBT-Bewegung die traditionelle Gesellschaft zerstören, die Religion bekämpfen und Meinungsfreiheit einschränken. Aufgerufen wird, überall im Land LGBT-freie Zonen zu schaffen, die es in einigen Gegenden übrigens bereits gibt. Vier Wojewodschaftsparlamente mit entsprechenden Mehrheiten haben ihre Gebiete zu solchen Freizonen erklärt, außerdem gibt es zahlreiche Amtskreise und einige Kommunen, die sich stolz mit diesem ungeheuerlichen Unfug brüsten.
Am 20. Juli dieses Jahres hatten Lesben- und Schwulen-Organisationen erstmals zu einer friedlichen Demonstration für Toleranz und Gleichstellung in die östliche Wojewodschaftshauptstadt Białystok geladen. Die Nationalkonservativen und die katholische Kirche am Ort liefen Sturm, riefen öffentlich auf, den drohenden Einzug der LGBT-Ideologie in die Stadt zu verhindern. Es kam zu Gewaltszenen, deren Bilder den liberalen Teil Polens erschütterten, weil die friedlich ihre Rechte einfordernden Menschen von einem wildgewordenen Mob beschimpft, bespuckt, mit Mord und Totschlag bedroht wurden. Nur ein massives Polizeiaufgebot verhinderte Schlimmeres. In den nationalkonservativen Medien sagten hinterher diejenigen, die den Lesben und Schwulen kurz zuvor noch an den Kragen wollten, sie hätten doch lediglich gegen die Offensive des Bösen gekämpft.
In einem vielgelesenen Kaczyński-Blatt hieß es jetzt, Polen sei die letzte Bastion in EU-Europa, die sich der Gender- und LGBT-Ideologie verweigere, weshalb es jetzt zum ersten Ziel im Zivilisationskrieg geworden sei. Polen, die letzte Bastion von kultureller Identität und Katholizismus in der EU, stehe unter dem Beschuss vieler ausländischer Einrichtungen, die die LGBT-Ideologie als ein hervorragendes Mittel erkannt hätten, um die gesellschaftlichen Strukturen umzustoßen und eine neue Ordnung einzuführen. Und andererseits erheben sich nach Białystok in den liberalen beziehungsweise linksgerichteten Medien zunehmend Stimmen, die immer besorgter fragen, wie Faschismus eigentlich anfange.