22. Jahrgang | Nummer 18 | 2. September 2019

Minus statt Plus – neue Normalität beim Zins

von Ulrich Busch

Vor mir liegt eine Broschüre mit dem programmatischen Titel „Der Zins muss sterben!“ von Arthur Zweiniger aus dem Jahre 1919. Es gibt Hunderte solcher Schriften, verfasst von Geldreformern und Weltverbesserern, die das Ziel verfolgen, durch Abschaffung des Zinses den Kapitalismus zu beseitigen oder wenigstens zu verbessern. Vergeblich, wie die Praxis zeigt. Zumindest bisher. Jetzt aber tut sich in dieser Hinsicht eine ganz neue Perspektive auf: die Einführung von Negativzinsen. Galt bislang der Zins unangefochten als eine positive Größe und stellte ein Zinsniveau nahe Null das absolute Minimum dar, so vollzieht sich gegenwärtig ein Paradigmenwechsel dahingehend, dass auch negative Zinsen möglich sind. Diese Tatsache ist an sich, noch mehr aber in ihren Wirkungen, derart ungeheuerlich, dass die ökonomische Theorie sich weigert, sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Man sucht in der Fachliteratur vergebens nach einer schlüssigen Erklärung für dieses Phänomen. Für Kreditnehmer wie Sparer steht die Welt des Geldes ohnehin seit längerem, seitdem die Zinsen nur noch eine Richtung kennen, nämlich immer weiter zu sinken, auf dem Kopf.
Die Realität sieht inzwischen so aus, dass die Banken sich von der Zentralbank, in der Eurozone ist das die EZB, Geld borgen, und zwar zu einem Zinssatz von Null. Auf dieser Grundlage können sie an ihre Kunden billige Kredite vergeben – Kredite, deren Nominalzinsen kaum die Bearbeitungskosten decken und die Inflationsrate kompensieren. Real, nach Abzug der Inflation, bedeutet dies, dass die Kreditnehmer nach Ablauf der Kreditlaufzeit trotz Verzinsung kaum mehr Geld an die Bank (zurück)zahlen, als sie als Kredit ausgereicht bekommen hatten. Auf der anderen Seite verwahrt die Bank Einlagen von Sparern, wofür sie keine (oder kaum noch) Zinsen zahlt. In Abhängigkeit von der Höhe dieser Einlagen aber muss sie selbst Guthaben bei der EZB bilden, wofür ihr als Einlagefazilität negative Zinsen berechnet werden, derzeit minus 0,4 Prozent. Ab September könnten es minus 0,6 Prozent sein. Man versteht, dass unter diesen Bedingungen die traditionellen Geschäftsmodelle der Banken nicht mehr funktionieren, sie im Geldanlage- und Kreditgeschäft keine Gewinne mehr erwirtschaften und daher in finanziellen Schwierigkeiten geraten. Gleiches gilt für Lebensversicherungsgesellschaften und andere Kapitalmarktakteure, die zinsabhängige Geschäfte betreiben. Sehr gut leben können damit aber der Staat und viele Unternehmen, da sie ihre Ausgaben jetzt faktisch für „umsonst“ kreditiert bekommen. Da öffentliche Haushalte und Unternehmen in einer Volkswirtschaft idealerweise als Schuldner fungieren, ist es offensichtlich, für wen diese Politik negativer Zinsen vorteilhaft ist und für wen nicht. Zu den Nutznießern zählt auch jener Teil der Bevölkerung, der sein Geld in den Erwerb von Immobilien gesteckt hat und nicht als Sparer, sondern als Kreditnehmer auftritt. Für die Masse der privaten Haushalte jedoch, für zahlreiche Institutionen, Vereine, Stiftungen und für einige Unternehmen hat diese Politik dramatische Auswirkungen. So sind die Mindereinnahmen der Sparer beträchtlich, indem sie sich auf Hunderte von Milliarden Euro summieren. 2018 etwa lag die reale Portfoliorendite der Privathaushalte bei minus 2,5 Prozent. Das gab es noch nie! Damit ist die „schleichende Enteignung der Sparer“ brutale Realität geworden. Die gleiche Summe aber, die Sparer jährlich verlieren, sparen der Staat und die Unternehmen an Finanzierungskosten ein. Diese Rechnung ist natürlich fiktiv, denn die Referenzwerte beruhen auf Annahmen aus der Vergangenheit. Die tatsächlichen Verluste und Gewinne entstehen durch die Inflation. Zwischen der Inflation, dem Zinsniveau und den Maßnahmen, um dieses niedrig zu halten, besteht jedoch eine enge Korrelation.
Momentan geht die Entwicklung in eine neue Runde: Auslöser sind diesmal die Banken, indem sie die Negativzinsen, die sie selbst an die EZB zahlen müssen, nunmehr an ihre Kunden weitergeben. Bisher wurde das vermieden und man begnügte sich bei den Einlagen mit einer Nullverzinsung. Damit aber soll Schluss sein, indem die Banken ihre Negativzinsen nun an die Kunden weitergeben. Praktisch heißt das, sie zahlen für Einlagen keine Zinsen, erheben aber für die Kontoführung erhöhte Bearbeitungs- und für die Geldverwahrung „Verwahrgebühren“. In der Sache sind das Negativzinsen, nichts sonst, auch wenn man versuchen wird, diesen Terminus zu vermeiden. Interessant sind die ökonomischen Wirkungen einer solchen Politik: Diejenigen Banken nämlich, die damit zögern oder die ihre Zinsen noch eine Weile oberhalb des Referenzzinssatzes halten, werden viele Neukunden als Sparer gewinnen. Dadurch aber werden sie selbst in den Ruin getrieben, denn für jede Einlage werden sie von der EZB zur Kasse gebeten. Ähnlich verkehrt herum ist die Wirkung auf öffentliche Haushalte und Unternehmen: Wer spart und sich wenig verschuldet, der hat das Nachsehen. Wer sich hoch verschuldet, gewinnt dabei. Dies ist in Bezug auf Unternehmen, deren Investitionstätigkeit durch günstige Finanzierungsbedingungen und vermehrte Kreditaufnahme angeregt werden soll, durchaus Kalkül. Bezahlen müssen dies jedoch die Sparer, indem sie auf einen Teil ihrer gewohnten Einkünfte verzichten.
Aus wirtschaftshistorischer Sicht ist festzuhalten, dass Zinsen und Renditen in Deutschland seit Mitte der 1980er Jahre einen sinkenden Trend aufweisen. In den 1990er Jahren war dieser Trend infolge der deutschen Vereinigung und deren Finanzierungserfordernisse kurzzeitig unterbrochen. Seit 2000 aber ist er wieder klar erkennbar. Gleichzeitig gingen die Inflationsraten zurück. Zeitweilig bestand sogar die Tendenz zur Deflation, also die Gefahr einer negativen Preisentwicklung. Gegenwärtig gibt es rund 15 Billionen Euro Anleihen in der Welt, die negative Renditen abwerfen. Das sind ein Viertel aller Schuldpapiere. Hinzu kommen Billionen Euro an Ersparnissen, die in realer Rechnung eine deutlich negative Verzinsung aufweisen. Und nun beginnt eine Periode auch nominal negativer Zinsen. Damit ist ein Paradigmenwechsel vollzogen und der „sanfte Tod des Rentiers“, den John M. Keynes 1936 vorhergesagt hat, ist eingeleitet.
Aber was werden die Folgen sein? Keynes sah den Tatbestand positiver, stabiler und relativ hoher Zinsen, wie er noch bis vor wenigen Jahren typisch war, als eine vorübergehende Erscheinung an, „die verschwinden wird, wenn sie ihre Leistung vollbracht hat“. Ihre Leistung aber ist die materielle Akkumulation, hohes Wirtschaftswachstum und einiges mehr, was in den letzten Jahren verloren gegangen ist und dem überall nachgetrauert wird. Keynes aber schreibt: „Es wird überdies ein großer Vorteil der Ereignisfolge sein, die ich befürworte, dass der sanfte Tod des Rentiers, des funktionslosen Investors, nichts Plötzliches sein wird, sondern nur eine allmähliche, aber verlängerte Fortsetzung dessen, was wir jüngst in Großbritannien gesehen haben und keine Revolution erfordern wird.“ Gemeint ist die Entwicklung des Kapitalismus über sein Akkumulationsstadium hinaus. – Negative Zinsen passen dazu und sind folglich nicht nur als eine ökonomische Abnormität, sondern auch als „neue Normalität“ der Geldwirtschaft und des Kapitalismus der Zukunft zu begreifen.