22. Jahrgang | Nummer 16 | 5. August 2019

Mickiewicz und Goethe – Louis Fürnberg erzählt von ihrer Begegnung in Weimar

von Ulrich Kaufmann

Der in Mähren am 24. Mai 1909 geborene deutsche Dichter Louis Fürnberg war als tschechischer Botschaftsrat zu den Goethe-Feierlichkeiten 1949 erstmals in Weimar. Später äußerte der Goethe-Kenner den Wunsch, in Zukunft möglicherweise in der Ilmstadt leben und arbeiten zu können. Im Sommer 1954 ging diese Hoffnung des bis dahin in Prag lebenden in Autors in Erfüllung.

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Wie sehr Fürnberg Johann Wolfgang Goethe verehrte, ist nicht zuletzt in seiner Erzählung „Die Begegnung in Weimar“ zu erleben, die er seinem Verleger Anton Einigs gewidmet hatte. Dieser Erzähltext sei eine „Huldigung, die zugleich ein Manifest völkerverbindender Gesinnung im ‚weltliterarischen‘, ‚weltbürgerlichen‘ Sinne ist“, schreibt Ursula Wertheim 1970. Fürnbergs Werk, eine Liebeserklärung an die Goethe-Stadt, erschien 1952 in seiner Vorweimarer Zeit. Geschildert wird der verbriefte Geburtstagsbesuch des einunddreißigjährigen polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz (1798–1855) bei dem achtzigjährigen Jubilar im Jahre 1829. Mickiewicz war Lyriker, Dramatiker, Freund Puschkins und Autor des Nationalepos „Pan Tadeusz“. Der Leser erfährt in der Exposition von den umfangreichen Vorbereitungen des Polen auf das Treffen, von der üppigen Gratulationskur, die Mickiewicz vor allem aus räumlicher Distanz beobachtet, und – als Krönung – von der abschließendes Begegnung des polnischen Dichters im Familienkreis, zu dem Goethe unangekündigt hinzukam.
Der polnische Schriftsteller Anton Eduard Odyniec (1804–1885), den Fürnberg liebevoll-ironisch auch als einen Frauenhelden darstellt, begleitet seinen Freund Mickiewicz nach Weimar. Seine Briefe aus jener Zeit dienen dem Erzähler Fürnberg als wichtigste Quelle. In einer Anmerkung, die der Musikkenner Fürnberg selbst schrieb, erfährt man, warum der polnische Autor in Weimar besonders herzlich begrüßt wurde: „Mickiewicz überbrachte Goethe einen Brief der berühmten polnischen Pianisten Marie Szymanowska, die Goethe 1823 in Marienbad kennengelernt hatte, die ihn später in Weimar besuchte und deren Spiel und Erscheinung ihn tief beeindruckte. Die Tochter Marie Szymanowskas wurde Mieckiewicz’ Gattin.“
Fürnberg befürchtete, dass seine handlungsarme Erzählung zu sehr nur auf Dialogen basiere. Diese schildern zum Teil köstlichen Hofklatsch, in dem der zu feiernde Herr des Hauses selbstredend im Zentrum steht. Andere Partien sind Kunstgespräche, die an Georg Büchners Meisterstück „Lenz“ erinnern. Lässt Büchner in seiner Erzählung die Lenz-Figur die eigene Poetik entwickeln, so formuliert hier Mickiewicz im Gespräch mit dem Dichter Karl von Holtei, dem Bildhauer Jean Pierre David sowie seinem polnischen Freund Ansichten, die denen Fürnbergs nahe kommen.
Da heißt es etwa: „Nichts ist unerträglicher als ein Künstler, der sich für den Nabel der Welt hält.“ – „Niemand wird das Vorrecht des Talents leugnen wollen, aber nichts finde ich häßlicher als jene vorsätzliche und durchaus egoistische Überschreitung der Grenzen des humanen Anstandes, indem eine gewisse Liederlichkeit mit Originalität verwechselt wird.“ „Bildung und Charakter“, meint Fürnbergs Mickiewicz, seien die „gesunde Basis“ eines Talents.
Gegen Ende der Erzählung wird von dem Naturwissenschaftler Frédéric Jean Soret angemerkt, dass der sonst „etwas schwermütige“ Mickiewicz „einmal in seiner unübertrefflich geistreich-liebenswürdigen Art die Volkslegende von Twardowski erzählte und kommentierte, eines polnischen Faust, der in seiner burlesken-menschenfreundlichen Weise dem Teufel immer wieder ein Schnippchen schlägt und diesem schließlich sowenig die Seele lässt wie Faust Mephisto.“
Als Mickiewicz und Goethe allein sprechen können, lässt sich Letzterer sogleich über den „Gang der polnischen Literatur“ informieren und interessiert sich dabei vornehmlich für deren „volkstümliche Grundlagen“. Der Achtzigjährige fragt, ob es die „Gefahr allzu großer Verengung“, zu einer „Provinzialisierung“ gäbe. Fürnberg zeigt die Übereinstimmung der beiden Autoren in vielen Fragen, geht aber ebenso auf Differenzen ein. Der polnische Gast, der später auch als Professor für slawische Literatur tätig, verfügt über tiefprägende Erfahrungen aus den Kämpfen gegen das zaristische System. Auch beruft sich der polnische Autor – aus verständlichen Gründen – auf die „patriotischen Sendung der Literatur.“ Der ein halbes Jahrhundert ältere Weimarer Geheimrat setzt auf den Begriff „Weltliteratur“, räumt jedoch ein, dass dies nicht die „Aufgabe der besonderen nationalen Züge der einzelnen Literaturen bedeuten dürfe“. Übereinstimmend sprechen beide über die Bedeutung der Volkslieder. Goethe erinnert an die vielfältigen Anregungen, die er von Herder erfuhr. In dem von der Goethe-Figur dominierten Disput fragt der polnische Autor, warum die Volkslieder der Deutschen „alle so traurig“ seien. Der Alte aus Weimar räumt ein, dass ihn diese Frage „selbst auf das tiefste beschäftige.“ Vor allem führt Goethe dafür historische Gründe an, den Dreißigjährigen Krieg etwa. Goethe spricht am Ende davon, dass er sich aus „eigener Neugierde besonders mit den Volksliedern der Slawen beschäftigt hatte“. Man müsse die „slawischen Heldengesänge“ beachten und an die „lebensbejahenden Helden“ erinnern, die in den slawischen Volksliedern auftauchen. Diese seien, meint Goethe, „echte Beispiele der Gattung“.

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Aus Anlass des 100. Todestages von Adam Mickiewicz wurde Fürnberg Vorsitzender des Mickiewicz-Komitees. Im Jubiläumsjahr erschien seine Mickiewicz-Erzählung in polnischer Sprache. Ein Mickiewicz-Denkmal, das der Berliner Bildhauers Gerhard Thieme geschaffen hatte, wurde 1956 im Park an der Ilm eingeweiht. Louis Fürnberg – in seiner Funktion als Stellvertretender Direktor der Nationalen Forschungs-und Gedenkstätten – betonte während der Feierstunde, dass der Termin für die Enthüllung (der 1.September, Weltfriedenstag) bewusst gewählt worden sei. Die Erinnerung an den bedeutendsten Dichter Polens sah Fürnberg als Symbol für ein neues Verhältnis der Deutschen zu ihren europäischen Nachbarn.
Fürnberg, auch Generalsekretär der Deutschen Schiller-Stiftung, schrieb 1955 die kleine Studie „Ein Schiller-Problem“. In ihr merkt er an, dass die Beziehungen der deutschen Klassik zur Literatur der slawischen Völker wenig erforscht seien. Auch deshalb baute er 1955 in Weimar – gemeinsam mit dem Slawisten Rudolf Fischer – die kleine Forschungsabteilung „Germanoslawika“ auf. Dort wurden die literarischen Wechselwirkungen zwischen Deutschland und den slawischen Völkern untersucht. Nach Fürnbergs Tod (im Juni 1957) hat man diese Forschungsstelle aufgelöst.
Was Louis Fürnberg mit Blick auf Tschechien für das Werk vieler Dichter tat, soll hier am Beispiel Goethes angedeutet werden. Bereits vor seiner Übersiedlung nach Weimar (1954) war Fünberg in Prag – anfangs gemeinsam mit dem Germanisten Eduard Goldstücker – mit einer sechsbändigen „Volksausgabe“ für tschechische Leser betraut worden. Fürnberg legte Wert auf den Begriff „Volksaugabe“. Alles „Elitäre“ hat er in seinem Werk wie auch in seinen publizistischen und kulturpolitischen Arbeiten abgelehnt. Mit seinen Essays und Kommentaren unternahm er den Versuch, den tschechischen Lesern etwa den „Faust“, Goethes Lyrik sowie in einem Extraband dessen Gespräche mit Eckermann nahe zu bringen. Nicht zuletzt sein Nachwort zu Eckermanns Gesprächen zeigt, dass der Dichter keinesfalls ein unkritisches Verhältnis zu Goethe hatte. Nach seiner Übersiedelung in die DDR, die mit der Übernahme zahlreicher neuer Aufgaben verbunden war, musste Fürnberg die Edition der Prager Goethe-Ausgabe in andere Hände legen.
In seinem Nachwort zu dem Lyrik-Band hat Fürnberg – vom „West-Östlichen-Diwan“ ausgehend – Goethes umfangreiche Rezeption der Weltliteratur in den Blick genommen. Dabei geht er bis in die frühen siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts zurück, nennt das „Alte Testament“, das „Hohe Lied“ Salomo, den „Koran“, die „Mahomet“-Übertragung Voltaires und vieles mehr. Natürlich kommt Fürnberg, den tschechischen Leser vor Augen, erneut auf „sein“ Feld, den slawischen Kulturkreis im Dialog mit der Weimarer Klassik. Goethes Beziehungen zu Böhmen und zu vielen russischen Literaten seien zu wenig bekannt. Von Goethe ausgehend wird bei Fürnberg im Geiste der Zeit scharf die „romantische Reaktion“ herausgestellt. Der Herausgeber vergisst indessen nicht, die großartige Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ von Achim von Arnim und Clemens Brentano zu würdigen, die Goethe hoch schätzte.
Wollte man alles, was der deutsche Dichter aus Böhmen als Mittler zwischen der tschechischen und deutschen Literatur und Kunst getan hat, nur auflisten, würde dies mehrere Druckseiten füllen. Zu erinnern wäre stellvertretend an seine, mit Bildern versehene Anthologie „Aus Böhmens Hain und Flur“ (1954), die nachgedichtete und übersetzte tschechische Lyrik enthält.
Der deutsche Dichter, aus einer jüdischen Familie stammend, war 1952 im Umfeld der Slansky-Prozesse erheblich attackiert worden. Dennoch erhielt Louis Fürnberg ein Jahr später den „Julius-Fučík-Preis“. Den Namenspatron dieser Auszeichnung, den sechs Jahre älteren Autor von Erzählungen, Reportagen, Essays und Kritiken, hat Fürnberg außerordentlich geschätzt. 1943 hatten die Nationalsozialisten diesen tapferen politischen Autor in Plötzensee ermordet. Seine erste Begegnung mit Fučík, den wir hier beispielhaft herausheben, hat Fürnberg geschildert: Während eines Abends im Freundeskreis, bei dem vorzüglich musiziert wurde, las der junge Poet Gedichte vor. Er glaubte, sich dafür entschuldigen zu müssen, dass er keine politischen, sondern intime, persönliche Texte vortrage. „Warum entschuldigst du dich? Wenn du einen Unterschied machst zwischen den politischen und den privaten, glaub ich dir beide nicht“, sagte Fučík.
Einen Glanzpunkt der Fučík-Aufnahme in der DDR durfte Fürnberg 1953 miterleben: Das Deutsche Theater spielte Juri Barjakowskis Drama „Julius Fučík“ – mit Ernst Busch in der Titelrolle. Das Ensemble ließ er wissen: „Sie leisteten Menschendienst im schönsten Sinne des Wortes, in dem Sie Kampf, Leben und Sterben dieses Helden und Märtyrers erstehen ließen.“
Louis Fürnbergs circa 5000 Bände umfassende Buchsammlung wurde zu Beginn des Jahrtausends – zusammen mit den Möbeln – in der von Volkhard Knigge geleiteten Gedenkstätte Buchenwald aufgestellt. Auch eine Goethe-Maske sowie eine Böhmen-Karte sind in dem Raum zu sehen. Seit 2017 ist die Bibliothek öffentlich zugänglich.
Die Nazis hatten Louis Fürnberg 1939 in zwölf Gefängnisse und Folterkammern gesperrt und dem musikalisch begabten Dichter derart mit Büchern beworfen, dass er dauerhafte Gehörschäden davontrug. Knigge wollte wenigstens der Bibliothek eine würdige Heimstatt geben, wenn schon ihr Besitzer jahrzehntelang ein Gejagter und Vertriebener war.
Der Dichter erhielt hohe Auszeichnungen und viele (zu viele) Betätigungsfelder und Ämter. Seine Verdienste als Mittler zwischen der deutschen und den slawischen Literaturen, als Poet, Erzähler, Übersetzer, Herausgeber, Publizist, Komponist sowie (in den ersten Jahren der DDR) als tschechischer Diplomat sollten gerade in Zeiten, da in Europa der Nationalismus im Vormarsch ist, nicht in Vergessenheit geraten.
Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass Louis Fürnberg am 23. Juni 1957 nicht unter den Klängen der Becherschen Nationalhymne, sondern unter denen der „Internationale“ zu Grabe getragen wurde.