22. Jahrgang | Nummer 18 | 2. September 2019

Lesergruß an Mascha

von Renate Hoffmann

„Man braucht nur eine Insel
allein im weiten Meer.
Man braucht nur einen Menschen,
den aber braucht man sehr.“

Mascha Kaléko

Beides habe ich. Auf der Insel, die ich besuche, kräht morgens noch der Hahn. An den Wegen liegt die Hinterlassenschaft der Kutschpferde und im Buchladen die fuchsfarbene Katze mittenmang der Literatur. Wenn es einem wohlergeht zwischen Wasser, Wind und Wolken, sollte man, so dachte ich, vorzugsweise Gedichte lesen.
Ich suchte die nähere Bekanntschaft mit Mascha Kaléko (1907–1975), die als Golda Malka Aufen in Chrzánow (Westgalizien / Polen) geboren wurde. – Erfolgreicher Beginn in Berlin. Ihre Gedichte finden Aufnahme in der berühmten Vossischen Zeitung und im Berliner Tageblatt. 1933 erscheint Kalékos erste Buchausgabe „Das lyrische Stenogrammheft“ bei Rowohlt. Poesie aus dem Alltag der Großstadt. Von bedeutenden Literaten der Zeit bewundert und gelobt (unter ihnen Thomas Mann und Hermann Hesse). Man sagt bereits: „Die Mascha“. Als Jüdin erhält sie 1935 Berufsverbot und emigriert 1938 nach New York. Später Übersiedelung nach Jerusalem.
Sie schreibt und schreibt, sie muss schreiben und tut es mit Witz und Ironie, Schärfe und Zartheit und in einsamen Tagen und Nächten mit bedrückender Wehmut. – In den lyrischen Stenogrammen sprudelt ein Quell der Gefühle. Im „Interview mit mir selbst“ stellt sie sich vor: „Mein meist gesagtes Wort als Kind war ‚nein‘. / Ich war kein einwandfreies Mutterglück. Und denke ich an jene Zeit zurück: / Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein.“
Mascha saugt die lebhafte Stadt Berlin in sich auf, von „Montag früh bis Wochenend“, mit all ihren Klängen und kritischen Zwischentönen. Dem Montag widmet sie ein Chanson: „… Schlagerlied vom Sonntag noch im Ohr, / Denkt man ungern an Bürogehälter. / – Montag hat ein kleiner Angestellter / Mittags Krach und Abends gar nichts vor.“
Mit Mascha Kaléko schlendert man durch Berlins Straßen, über den Tauentzien und in einer Julinacht zur Gedächtniskirche. Plötzlich gewinnen ihre Verszeilen Leben: „Die Dächer glühn als lägen sie im Fieber. / Es schlägt der vielgerühmte Puls der Stadt. / Grell sticht Fassadenlicht. Und hoch darüber / Erscheint der Vollmond schlecht rasiert und matt …“
Schlägt der Puls der Stadt langsamer, zu vorgeschrittener Stunde, dann klingt der Abend in träger Müdigkeit aus: „Jetzt ruhn auch schon die letzten Großstadthäuser. / Im Tanzpalast ist die Musik verstummt / Bis auf den Boy, der einen Schlager summt. / Und hinter Schenkentüren wird es leiser. …“ („Spät nachts“) Melancholie schleicht sich ein und die Dichterin hegt quiemelige Gedanken: „Ich sitz in meinem Stammcafé / Es ist schon spät. Ich gähne … / Ich habe Sehnsucht nach René / Und außerdem Migräne. / Der große Blonde an der Bar / Schickt einen Brief. – Beim Lesen / Denke ich: zu spät. Vor einem Jahr / wär der mein Typ gewesen …“
Sie lässt den „Frühling über Berlin“ aufblühen und schildert einen „Sonntagmorgen“ in der Stadt. Es hat wohl seine Bewandtnis damit, dass man M. K. auch eine Dichterin der Großstadt nannte.
Ihre wachen Sinne erfassen die sozialen Ungleichheiten und legen sie bloß. Zum Beispiel im „Zeitgemäßen Liebesbrief“. ER an SIE: „Liebe Elli! – Mal muß mans gestehen. / Und es ist auch schließlich besser so. / – Gestern war mein letzter Ultimo, / Und ab Dienstag darf ich stempeln gehen. […] Der Beamte auf dem Nachweis meinte, / Daß ich tot fürs Wirtschaftsleben wär. / – Aktenzeichen: C – Die Mutter weinte. / Und du findest Armut ordinär …“
Unüberlesbar in Mascha Kalékos Gedichten ist – die Liebe. In dem Getümmel der Stadt, im Verborgenen, auf Parkbänken – und in ihrem eigenen Leben. Oftmals von Trauer überschattet: „Jetzt bist du fort. Dein Zug ging neun Uhr sieben. / Ich hielt dich nicht zurück. Nun tut´s mir leid. / – Von dir ist nichts zurückgeblieben / Als ein paar Fotos und die Einsamkeit. …“ („Abschied“)
Doch die Lyrikerin hat auch ihre Wünsche und Sehnsüchte. Zum „Geburtstag“ schreibt sie auf den Wunschzettel: „… Ich möchte wieder in der Tertia sitzen / Und schwänzen, wenn die Günther Englisch gibt. / Ich möchte manchmal in die Haustür ritzen: / ‚In Werner Birke bin ich toll verliebt !!!‘ / Ich möcht so gern nochmal Theater spielen, / Möcht heulen, wenn Luise Miller stirbt, / Des Nachts vorm Spiegel wie die Baker schielen, / … Obgleich das den Charakter sehr verdirbt.“
Maschas Sehnsucht ist eine allgemeingültige, die von 1933 an bis heutigen Tags nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat: „Einmal sollte man seine Siebensachen / Fortrollen aus diesen glatten Gleisen. / Man müßte sich aus dem Staube machen / Und früh am Morgen unbekannt verreisen. …“

Gegengedicht zu M. K.s „Langschläfers Morgenlied“:

Liebe Mascha,
wie schade, dass ich dich nicht eher kannte,
du bist mir eine Anverwandte
im Geiste.
Das meiste,
was du aufgeschrieben,
ist mir in der Seele geblieben.
Bis auf das Eine:
Du magst keine
Leute, die früh aufstehen.
So gesehen
betrübt mich das sehr,
denn ich bin ein Frühaufsteher.

Angefügt an „Das „Lyrische Stenogrammheft“ ist Mascha Kalékos „Kleines Lesebuch für Große“. Im Jahr 1934 bei Ernst Rowohlt gedruckt und nach Bekanntwerden der jüdischen Abkunft der Dichterin noch in der Druckerei beschlagnahmt. Im Lesebuch blättert man ebenso vergnügt-betroffen wie in den Stenogrammen und hat seine Lesefreude an beiden Entdeckungen.

Mascha Kaleko: Das lyrische Stenogrammheft. Rowohlt Taschenbuch Verlag 2019, 171 Seiten, 10,00 Euro.