22. Jahrgang | Nummer 16 | 5. August 2019

Klimawandel – wir und die Anderen

von Stephan Wohanka

Klimawandel – nicht schon wieder! Doch, muss sein. Also lasst uns übers Klima sprechen …
Die Weltlage heute: Die gegenseitigen Abhängigkeiten der Menschen und Völker von- und untereinander waren nie größer; ein materielles, geistig-kulturelles und technologisches Netz umspannt die Erde. Und es ist fest geknüpft – oder wie könnte man durch seine Maschen schlüpfen?
Die Entwicklung, die zu diesem Zustand führte und die wir gemeinhin als Kultur im Sinne der Abkehr und bewussten Überwindung der Natur bezeichnen, hat offenbar die Tragfähigkeit eben dieser Natur an ihre Grenzen gebracht; Grenzen in Gestalt des menschengemachten Klimawandels, des Artensterbens, der Vermüllung der Meere und Böden und der Übernutzung der Ressourcen. Diese Phänomene sind desgleichen „weltumspannend“ in dem Sinne, dass kein Land allein dieser Bedrohungen wird Herr werden können. Beide miteinander verschränkten Gegebenheiten erforderten – wollte sich die Menschheit ihnen stellen – eine kosmopolitische Verpflichtung zum gemeinsamen Handeln, die jedoch bisher auf einen deutlichen Mangel eines ebenso kosmopolitischen Bewusstseins trifft. Zwischen dem, was angesichts obiger Zustände an Not wendenden internationalen Aktionen und Prozessen geschehen müsste und unseren dafür zur Verfügung stehenden globalen Fähigkeiten sowie dem faktisch Vollbrachten klafft (noch) eine riesige Lücke. Mit auf Bedingungen von Autonomie, (angeblicher) Unabhängigkeit und Souveränität zugeschnittenen Institutionen und Werkzeugen versuchen wir Probleme zu bekämpfen, die sich der Wirksamkeit ebendieser Institutionen und Werkzeuge entziehen; dadurch, dass sie übernational, global sind, dadurch, dass sie gerade aus Erosion und Verwässerung territorialer Autonomie und Souveränität herrühren.
Man kann die Geschichte der Menschheit unterschiedlich erzählen. Eine Weise handelt von der beständigen, mal schrittweisen, mal eruptiven Ausbildung eines „Wir“, zu dem sich die Menschen zugehörig fühlen. Dieser Prozess beginnt in den Gruppen der Jäger und Sammler (die Paläontologen zählten nie mehr als 150 Seelen), führte dann über Stämme, Völker, Staaten bis zu den heutigen Nationalstaaten mit gewissen überstaatlichen Gebilden wie der EU. Allerdings ist keine der derzeitig bestehenden internationalen politischen Formationen obigem genuin kosmopolitischen Maßstab angemessen; das fragmentarische globale „Wir“ in Gestalt der UNO, der EU besteht immer noch aus widerstreitenden, ja feindlichen Interessen und Kräften: Die USA, China und Russland, die EU sind sich in freundlicher bis feindlicher Abneigung verbunden, in der EU selbst driften die Mitgliedsstaaten manchmal mehr auseinander als dass sie zusammenfänden, und es hat den Anschein, dass diese nationalstaatlich geprägte Dichotomie einen unüberwindlichen Charakter habe. Jedenfalls scheiterten bislang alle Versuche, sie zugunsten der kosmopolitischen Notwendigkeiten aufzuheben. Es herrscht eine globale „Wir-gegen-die-anderen“-Mentalität vor.
Interessanterweise bewegen sich jedoch unter dem jeweiligen übergeordneten „Wir“ viele kleinere „Wir-gegen-die-anderen“: Deutschland beispielsweise hält unter seinem „Dach“ die in Bundesländern lebenden sich unterschiedlichen Landsmannschaften zugehörig fühlenden Menschen – also Thüringer, Berliner et cetera, die jeweils gegen Bayern, Holsteiner und andere stehen – zusammen. Desgleichen auch Westdeutsche und Ostdeutsche – momentan recht und schlecht, aber auch Städter, Dörfler, Junge, Alte, Junge, Hipster und Normalos … Das innerstaatliche „Wir-gegen-die-anderen“ muss also nicht gänzlich aufgehoben sein, aber doch soweit neutralisiert, zivilisiert, dass es grundsätzlich ein friedfertiges und kooperatives Zusammenleben im jeweiligen Lande gewährleistet. So wird es auch politisiert, denn die für das Funktionieren des jeweiligen (demokratischen) Gemeinwesens notwendigen (politischen) Interessenunterschiede und die der Weltanschauungen bleiben bestehen. Diese können, ja müssen streitig ausgetragen werden. Damit ist auch der Zugang für das Verstehen des Gemeinwesens, der Nation als Demos gegeben, das heißt die Menschen sind gleich, sind Citoyen und Wahlbürger respektive können es werden, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft.
Die oben beschriebenen globalen Interdependenzen nötigten – wie gesagt – uns, die Weltgemeinschaft, zu einem desgleichen globalen „Wir“. Dazu müssten die (national)staatlichen „Wirs“ nicht gänzlich aufgehoben werden, sondern nur soweit domestiziert werden, dass sie (im schlimmsten Falle) auf ihr chauvinistisch-aggressives Auftreten und militärische Auseinandersetzungen verzichteten – angesichts der bisherigen historischen „Wir“-Entwicklungen eigentlich eine zu leistende Aufgabe?
Offenbar nicht. Woran scheitert sie (bisher)? Namentlich jetzt sei „der Ruf der Horde“ (Mario Vargas Llosa) wieder vernehmbarer zu hören. Die Anziehungskraft, die von geschlossenen Gemeinschaften ausgeht, in der die Menschen sich der mühsamen Verpflichtung entziehen, die ihnen die über Jahrhunderte erworbene Kultur der Freiheit, sich des eigenen Verstandes bedienen zu müssen, auferlegt, ist immer noch immens. Es lebt sich augenscheinlich für (zu) viele immer noch besser unter den Regimen einer Religion, einer Doktrin oder einer autoritären Macht als in „grenzenloser“ Freiheit. Die überdies noch anstrengend ist; dadurch, dass ihre Kehrseite die Verantwortung ist – für sich, andere und letztlich auch für die soziale und natürliche Umwelt.
Die Klimakrise ist deshalb auch eine Kulturkrise. Wenn erstere, oder breiter noch – die ökologische Krise aus einem zweckrational verengten Naturverständnis folgt, beeinflusst die moderne Kultur als gesellschaftlicher Rahmen und Bezugssystem eben durch geringen Bezug zur Natur ökonomisch notwendige Entscheidungsprozesse in schwer kontrollierbarer, ja undurchschaubarer Weise. Eines der daraus folgenden Probleme ist die so genannte Internalisierung, also die Einbeziehung sozialer Kosten, die durch die finanziell oder anderweitig nicht kompensierten Auswirkungen ökonomischer Entscheidungen auf Unbeteiligte anfallen; also negative Auswirkungen, für die Verursacher nicht (oder wenig) zahlen und Betroffene keinen (oder geringen) Ausgleich erhalten. Schlagendes Beispiel sind die rauchenden Schlote der Energieerzeuger, deren Qualm seit Jahrzehnten mehr oder wenig ungefiltert in die Luft geht und Schädigungen an Gesundheit von Mensch und Tier sowie am Ökosystem verursacht.
Hinzu kommt ein Weiteres, was eine Verantwortungsübernahme schwer macht: Außer an Katastrophenworten und -bildern ermangelt es uns (noch) weitgehend an Begriffen, einer Sprache, die der Größe des offenbar fundamentalen Wandels unserer natürlichen Umwelt gerecht würde und diesen so ideell verständlich machte. (Gleiches gilt wohl auch für die Digitalisierung). Denn wie sollten die Folgen des Klimawandels wie Hitze, Dürre, Hunger, Überschwemmung und Landflucht et cetera, letztlich ein potenziell möglicher Untergang der Menschheit erzählt werden? – bisher gelang dies nur, wirkungslos in der Sache, weil als Entertainment genommen, als Science-Fiction. Adäquate Worte fanden noch die Altvorderen, die die zehn biblischen Plagen beschrieben; sie erzählten, verständlich für Zeitgenossen, von natürlichen Vorgängen und nachvollziehbaren Erfahrungen. Könnte eine „neue“ Sprache dazu beitragen, die Kluft zwischen Kultur und Natur wenn nicht zu schließen, so doch verringern? Sie müsste (wieder) ausdrücken können, dass es natürliche Kräfte gibt, die größer, mächtiger sind als der Mensch, die uns Demut lehrt gegenüber der Natur und ihren Gewalten. Und wenn es richtig ist, dass „es keine Politik vor und jenseits der Sprache (gibt)“ (Robert Habeck), dann ist unser, auch globales, politisches Unvermögen, mit dem Klimawandel adäquat umzugehen, auch auf dieses Defizit zurückzuführen. Die „neue“ Sprache wäre so desgleichen Voraussetzung dafür, (kosmo)politische Handlungsoptionen zurückzugewinnen.