von Sem Pflaumenfeld
Vor Jahren hörte ich auf, Souvenirs von meinen Reisen mitzubringen. Genau genommen stimmt das so nicht, nur beweise ich anderen Menschen die Tatsachen meiner Reisen nicht mehr. Ebenso wie ich keine Mitbringsel haben möchte, verteile ich selbst keine. Mich lehrten meine monatelangen Reisen durch Japan, dass alles, das ich nicht essen kann, meinen Rucksack nur unnötig erschwert. Ich muss ihn immerhin tragen. Somit sind die Souvenirs meiner Reisen meist eine Handvoll Leporellos und etwa fünf Bücher für die drei langsam, aber stetig wachsenden Haufen auf meinem Teppichboden. Eigentlich sortiere ich seit über einem Jahr aus.
Nun plante ich meinen Jahresurlaub durch Teile des Nordens von Sachsen-Anhalt. Im Nachhinein kann ich nicht mehr genau sagen, was mich dazu trieb, nun ausgerechnet Lokalkrimis zu meiner Erbauung lesen zu wollen. Doch auch diese Entscheidung machte diesen Sommerurlaub zu etwas Besonderem, da ich einigen meiner Interessen nachgehen konnte: mittelalterlicher Geschichten und vieles einfach besser wissen zu wollen. Dies tat ich online, und ich werde es an dieser Stelle fortsetzen.
Reisen sollen mit dem ersten Schritt beginnen. Das stimmt wohl auch metaphorisch. Nicht viel mehr als einen Monat zuvor buchte ich meine drei Unterkünfte in Quedlinburg, Magdeburg und Tangermünde. Vor fünf Jahren hatte ich mich zwar bereits einmal entschlossen, AirBnB zu nutzen. Genug Gründe machen solch eine Entscheidung politisch vernünftig. Nicht nur beeinflussen solche Onlineplattformen für private Unterkünfte lokale Wohnungsmärkte negativ, da sie sich schwer kontrollieren lassen, sie unterwandern auch Standards wie Preiskalkulationen, Hygiene und Arbeitsbedingungen der Hotelbranche. Wie Preise für Übernachtungen sich zusammensetzen, liegt in den Händen der Menschen, die ihre Häuser und Wohnungen anbieten. Ebenso unterliegt die Auswahl ihrer Gäste keiner Kontrolle. Seit etwa drei Jahren schreibt die Plattform ihre Regeln um, um wenigstens in ihren Richtlinien rassistische und homophobe Ablehnung öffentlich zu verurteilen.
Die Auseinandersetzung um die Stornierung von privaten Unterkünften in Gaza brachte AirBnB vor zwei Jahren eine politische Diskussion ein, die die Plattform aussitzen konnte. Versuche in Japan, private Angebote an historischen Orten wie Kyoto einzuschränken oder womöglich sogar national zu verbieten, verliefen sich im Sande, da AirBnB zu jenem Zeitpunkt sowieso kaum Zuspruch bekam. Interessanterweise machten solche politischen Versuche die Plattform in Japan öffentlich erst bekannt. Für die Austragung der Olympischen Spiele im nächsten Jahr hat sich noch nicht endgültig entschieden, ob private Angebote online im großen Stil zugelassen werden. Doch auch das Land musste schnell erkennen, dass eine Einschränkung schwer wird und dass unterschiedliche Interessen zu beachten sind.
Ich hatte nun Ferienwohnungen in drei unterschiedlichen, jedoch gleichermaßen hübschen Fachwerkhäusern gefunden. Jene wurden über mehrere Onlineplattformen angeboten. Zugegeben war ich letztendlich zu faul, mich um etwas anderes zu kümmern. Ich habe jedoch nie wirklich nachgesehen, was passieren würde, wenn auch nur eine Unterkunft kurzfristig abgesagt hätte. In diesem Jahr war ich eine erstaunlich ignorante Reisende. So war ich an einem Donnerstagmorgen nach acht Uhr mit zwei Rucksäcken und einer Handtasche auf dem Weg zum Hauptbahnhof unterwegs. Ich ließ meinen obligatorischen Kaffee aus und stieg halb zehn in die Regionalbahn nach Magdeburg.
Innerhalb Europas fahre ich gern mit der Bahn. Wenn ich das so ausspreche, klinge ich damit postmodern stylisch. Die Wahrheit ist einfach, dass ich Reisewege trotz viel Erfahrung nach wie vor körperlich anstrengend finde. Ungern fliege ich; in Zügen kann ich mir jedenfalls einbilden, langsam irgendwo anzukommen. In diesem Sommer verstellte ich wiederholt Vierersitze mit meinem Reiserucksack. Dann steckte ich meine Nase in eine Zeitung, um sehr deutlich zu zeigen, dass ich mich nicht mit Menschen auseinandersetzen wollte. Die einzigen Gespräche bezogen sich auf meine Fahrkarte und auf meinen Anschlusszug in Richtung Thale. Jener Zug wurde unterwegs geteilt, und ich bin als Reisende nervös genug, um mich bei unterschiedlichen Zugbegleitern zu erkundigen und erst nach der Zugtrennung gelöst aufzuatmen.
Sachsen-Anhalt jenseits der Landeshauptstadt musste bei all dem auch noch bestimmte Stereotype bestätigen. Vor Oschersleben wurden unsere Fahrkarten kontrolliert. Der Zugbegleiter konnte sich nicht zurückhalten, in einem breiten Dialekt einen schwarzen Mitfahrer zu duzen und ihm mit Rausschmiss zu drohen, sollte der Mann seine Fahrkarte nicht zeigen. Jener hatte mit seinem Ausweis und seinem Status als Student fahren wollen. Die schwangere schwarze Frau ignorierte er, nachdem er ihre Fahrkarte kurz in der Hand hatte. Anstatt ihn freundlich darauf hinzuweisen, dass ein Fahrkartenautomat nur kurz um die Ecke im Zug stehen würde, holte Fahrkartenkontrolleur sich zwei Securityhelfer. Alle drei Männer kamen sich mit jedem Kilometer der Fahrt bedeutender vor. Jedes Klischee von Männern mit Waffen im Gürtel und einem Befehlssystem im Rücken erfüllten sie. Sie erzählten sich zudem ihre Erlebnisse mit Menschen, die nicht ihren Aufforderungen so folgten, wie sie es für recht und billig hielten. In meiner Mischung aus Scham, nicht zu handeln, und einer Unsicherheit, wie ich mit drei Männern in ihrem Machtgehabe umzugehen hätte, starrte ich in die Gegend. Als der Student erst mit den Männern gegangen war und nach Oschersleben wieder auf seinem Platz saß, fühlte ich mich erleichtert und weniger feige, zu racial profiling nichts getan zu haben. Die nächste Fahrkartenkontrolleurin ließ sich kurz von einem weißen Studenten erklären, warum seine Unterlagen nicht ganz vollständig waren, und ging ihren Weg ohne weitere Umstände.
So kam ich am frühen Nachmittag in Quedlinburg an. Ich weiß nach wie vor nicht, was ich von dem Bahnhof halten soll. Die Gebäude sind Fachwerkhäuser, die strukturell schön sind. Doch sie sind ungenutzt und deswegen zugenagelt. Am Ende des Bahnsteigs werden eine Spielhalle und eine Fahrschule betrieben. Zwei Kioske bieten Essen an. Das wilhelminische Bahnhofsgebäude beherbergt den Fahrkartenschalter der Privatbahn, die diese Strecke betreibt. Die Großstädterin konnte sich nicht verkneifen, die tägliche Mittagspause der Verkaufsstelle für provinziell zu halten. Zuvor wollte ich in der größeren der beiden Gaststätten essen, da ich mit meinem Rucksack in die kleinere nicht hineingekommen wäre. So entschied ich mich an meinem ersten Urlaubstag für etwas, was mich an Essangebote bei mir um die Ecke erinnerte: Pizza und Cola.
Dass mich kein Bus zu meiner Unterkunft bringen würde, hatte ich erwartet. Mein Handy hatte mir angezeigt, dass ich in weniger als zehn Minuten zu Fuß die Altstadt erreichen würde. Während ich vor mich hin schimpfte, da zwei Rücksäcke nicht auf Rücken und Schultern zu tragen sind, betrat ich erst die Neustadt und daraufhin die Altstadt. Meine Gastgeberin hatte mir eine ausführliche Nachricht geschrieben, damit ich das richtige Fachwerkhaus finden konnte. Nachdem ich umständlich mit dem Schlüsselsafe gekämpft hatte, weil ich zu klein für seine Höhe am Türrahmen war, betrat ich mein eigenes Häuschen in Deutschlands Stadt der Fachwerkhäuser. Für vier Tage würde ich unter dem Dach des ältesten zusammenhängenden Komplexes von Privathäusern in Quedlinburg schlafen.
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