von Erhard Crome
Am 23. Juli stand fest, Boris Johnson wird der nächste Premierminister Großbritanniens; am 24. Juli hat er das Amt übernommen. Die deutschen und EU-europäischen Interpretationen des Brexit-Entscheids vom 23. Juni 2016 lauten seit Anbeginn, ein EU-Austritt sei unvernünftig. Man pflegt – statt das Wählervotum zu akzeptieren – voller Inbrunst verschwörungstheoretische Erklärungsmuster: Eine kleine Gruppe konservativer Politiker, zu der auch Boris Johnson gehörte, habe mit Lug und Trug eine Mehrheit der britischen Wähler entgegen ihren eigentlichen Interessen – die natürlich die Deutschen am besten kennen – dazu gebracht, mit Nein zu stimmen. Johnson gilt so als Lügner, Betrüger, ja als „Clown“.
Ganz in diesem Sinne hatte das ZDF für seine Nachrichtensendung heute journal am 23. Juli den irischen Autor und Journalisten Fintan O’Toole engagiert, damit er genau dies glaubwürdig rüberbringt. Der mühte sich redlich, Johnson wieder die Clowns-Maske überzustülpen, ihm fehlende moralische Ernsthaftigkeit zu attestieren. Mehr noch, die Engländer hätten überhaupt eine „exzentrische Vorstellung von Freiheit“. Sie hatten keinen Faschismus, keinen Kommunismus, keine Besetzung oder Invasion, erlebten keine „große Revolution“ und hielten daher Demokratie für ein Spiel.
Das ist dem Land gegenüber, aus dem die moderne Demokratie kommt, schon starker Tobak. Zumal die Argumentationsfigur gestohlen ist, allerdings wurde die ursprüngliche Pointe ins Negative verkehrt. Der britische Historiker Brendan Simms betont in seinem Buch über die Briten und Europa, Großbritannien sei „die letzte europäische Großmacht“. Beim Bruttoinlandsprodukt rangiert es weltweit an fünfter Stelle, liegt aber pro Kopf gerechnet vor Deutschland und unter den großen Ländern nur hinter den USA. Es hat den siebtgrößten Militärhaushalt weltweit und verfügt über Atomwaffen, die selbständig einsatzfähig seien. Großbritannien hat einen Ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat mit Veto-Recht und ist, weil es nicht in die Eurozone eingebunden ist, „immer noch ein souveräner Staat“. „Kurz gesagt, der britische Niedergang ist – ebenso wie der amerikanische – häufig verkündet worden, aber nie eingetreten. Das Vereinigte Königreich ist aufgrund seiner militärischen Stärke, seiner Wirtschaftskraft, seiner demographischen Vitalität, seiner gesellschaftlichen und politischen Robustheit und vor allem der weltweiten Anziehungskraft seines Verfassungsmodells eine Großmacht geblieben.“ Simms Fazit: „In den letzten fünfhundert Jahren haben die Europäer politisches Unglück in vielerlei Form erfahren, vom Absolutismus über den Jakobinismus, die napoleonische Tyrannei, den Nationalsozialismus und den Sowjetkommunismus bis zur gut gemeinten, aber kreuzlahmen Europäischen Union.“ Die zählt er hier auch zu den Plagen Europas. Im Unterschied „zu buchstäblich allen anderen Staaten Europas“ war England beziehungsweise Großbritannien niemals besetzt oder geteilt und deshalb „nie bloß Objekt, sondern stets ein Subjekt europäischer Politik“.
Diese Subjektrolle nun wollen die in Berlin Regierenden, die Brüsseler Bürokratie und die ihnen zuarbeitenden Gelehrten und Journalisten den Briten absprechen, ins Clowneske verdrehen – in der augenscheinlichen Hoffnung, den Brexit doch noch zu verhindern. Für die Briten dagegen ist, wie Simms betont, die EU auch nach dem Brexit „kein Feind des Vereinigten Königreichs“. Der Premier erklärte nun, er wolle den Brexit mit Vertrag, allerdings ohne den „Backstop“, also die bisher Irland betreffenden Klauseln.
Von hier erklärt sich denn auch die Gehässigkeit O’Tooles. Es ist der Nationalismus der über Jahrhunderte unterdrückten Nation gegenüber den einstigen Unterdrückern. Seit dem 12. Jahrhundert wurde von England aus Irland erobert, im 16. Jahrhundert wurde es faktisch die erste englische Kolonie mit Enteignungen, Ansiedlung von Briten, verwaltungsmäßiger, sozialer und religiöser Unterdrückung der katholischen Iren durch protestantische Engländer und Schotten. Alle Mechanismen der gewaltsamen und verwaltungstechnischen Kolonialherrschaft hatte England in Irland erprobt, bevor sie bei der Eroberung des Empire weltweit zur Anwendung kamen. Die Große Hungersnot 1846-49 forderte zahlreiche Menschenleben und zog eine große Auswanderungswelle, vor allem in die USA nach sich. Die Bevölkerung Irlands sank von etwa 8,5 auf sechs Millionen Menschen. Die Londoner Regierung hatte jegliche Hilfe unterlassen.
Die Folge war ein erstarkendes irisches Unabhängigkeitsstreben. Der Osteraufstand 1916 – während Britannien im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland stand – scheiterte zwar, brachte jedoch einen Aufschwung des Freiheitskampfes. Nach den Wahlen 1918, der Bildung eines irischen Parlaments und einem Bürgerkrieg 1919-21 kam es schließlich 1921 zum anglo-irischen Vertrag, durch den der irische „Freistaat“ auf dem größten Teil der Insel entstand, während Nordirland Teil Großbritanniens blieb. Im Zweiten Weltkrieg übte der „Freistaat“ Neutralität gegenüber Großbritannien einerseits und den Achsenmächten andererseits. 1973 traten Großbritannien und die Republik Irland zeitgleich in die EU (damals noch EG) ein. Mit dem Brexit tritt Großbritannien aus, während Irland EU-Mitglied bleibt. Hier ist Irland – gestützt auf die EU – zum ersten Mal in seiner Geschichte in einer gegenüber den Briten stärkeren Position.
Der „Backstop“ sind jene Klauseln im Austrittsvertrag Großbritanniens aus der EU, den die Regierung von Theresa May mit der EU-Kommission verhandelt, aber das Londoner Unterhaus nicht ratifiziert hat. Sie betreffen das Verhältnis zwischen der Republik Irland und Nordirland sowie Großbritannien insgesamt. Sie besagen, dass nach dem Brexit bis 31. Dezember 2020 eine spezielle Regelung zur inneririschen Grenze zu finden ist, um zu verhindern, dass sie zur Außengrenze der EU wird. So lange bleibt das gesamte Vereinigte Königreich auch weiterhin den Binnenmarkt- und Zoll-Regeln der Europäischen Union unterworfen. Warenkontrollen könnten an der inneririschen Grenze entfallen. Großbritannien bliebe im EU-Binnenmarkt und müsste dessen Regeln anwenden, hätte als Nicht-Mitglied aber keinen Einfluss mehr auf deren Zustandekommen und könnte in dieser Zeit auch keine eigenständigen Handelsabkommen mit anderen Staaten abschließen. Gelingt die Regelung innerhalb der Frist bis Ende 2020 nicht, bleibt dies unbefristet bestehen. Für die Johnson-Regierung steht deshalb der Backstop im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Dabei geht es um zwei Bereiche. Zum einen werden derzeit etwa 85 Prozent des irischen Warenaustausches über nordirische und britische Häfen abgewickelt. Andere Handelswege – direkt nach Frankreich oder in die Niederlande – müssten neu geschaffen werden und würden zusätzliche Kosten verursachen. Dadurch wäre Irland das EU-Land, das wirtschaftlich am stärksten vom Brexit betroffen ist.
Zum anderen geht es um das „Karfreitagsabkommen“. In Nordirland hatte von 1969 bis 1998 nochmals ein blutiger Bürgerkrieg getobt, zwischen irisch-katholischen Kräften, die den Anschluss des Nordens an die Republik Irland erkämpfen wollten, einerseits und dem britischen Militär sowie englisch- und schottischstämmigen Protestantengruppen, die den Verbleib im Vereinigten Königreich sichern wollten, andererseits. Mit dem Karfreitagsabkommen wurde der Konflikt entschärft, wurden die Waffen niedergelegt und die Staatlichkeiten bei offener Grenze bestätigt. Die jetzt von verschiedenen Seiten ausgesprochenen Drohungen besagen, wenn die innerirische Grenze Außengrenze der EU würde, müsste sie scharf kontrolliert werden, und das würde zu einem Wiederaufflammen des Bürgerkrieges führen.
Das jedoch ist die Frage. In deutschen Medien heißt es oft, das Karfreitagsabkommen regele Grenzfragen. Die kommen in dem Abkommen aber nicht vor. Dann wird betont, es gehe um den freien Personenverkehr. Der ist aber an dieser Grenze seit 1923 frei und im Schengen-Abkommen sind weder Irland noch Großbritannien. Insofern geht es am Ende lediglich um den Warenverkehr. Und da kann im Zeitalter von GPS und Galileo, Satellitenbeobachtung der Erdoberfläche und Fernaufklärung niemand ernstlich behaupten, dass man dafür Zollhäuschen aufstellen muss, wie Mitte des 19. Jahrhunderts, um zu verhindern, dass über Großbritannien massenhaft chinesische oder US-amerikanische Waren illegal zollfrei in die EU gelangen.
Am Ende ist unter angelsächsischer Perspektive die Dominanz Deutschlands in Europa der folgerichtige Ausdruck der geopolitischen und geo-ökonomischen Verhältnisse des Kontinents und in der Welt und die Europäische Union stellt im Grunde nur die verkappte und institutionalisierte Vorherrschaft der Deutschen über Europa dar, dessen Teil innerhalb der EU bisher auch Großbritannien ist. Die Antwort soll der Brexit sein. Umgekehrt benutzen Berlin und Brüssel die Sorgen und Probleme der Iren, um scharfes Geschütz gegen die britische Selbständigkeit aufzufahren und vertragliche Unausweichlichkeiten zu schaffen. So betrachtet ist Boris Johnson für die Berliner Regierung heute unter anderen Umständen so etwas ähnliches, was Winston Churchill für die Berliner Regierung von 1940 war: eine Bedrohung für die deutsche Hegemonie über den Kontinent.
Schlagwörter: Boris Johnson, Brexit, Erhard Crome, Europäische Union, Großbritannien, Irland