von Mario Keßler
Die DDR-Historiker wurden nach 1990 an den Rand des Wissenschaftsbetriebes gedrängt, doch organisierten sich viele von ihnen in einer „zweiten Wissenschaftskultur“: in politischen Bildungsvereinen wie der Hellen Panke, dem Luisenstädtischen Verein oder der Windrose e.V. in Berlin. Solche Vereine, die auch in Leipzig, Jena und anderen Städten entstanden, wurden zu Diskussionsforen jener Wissenschaftler, nicht nur von Historikern, die ihre Arbeit unter den neuen komplizierten Bedingungen fortsetzten – ohne nennenswerte staatliche oder kommunale Förderung, ohne Forschungsgelder, die eine Teilnahme an Kongressen oder längere Archivreisen ermöglicht hätten. Wichtige Resultate solchen Bemühens waren die Bildung der Leibniz-Sozietät, deren Kern zunächst aus Mitgliedern der aufgelösten DDR-Wissenschaftsakademie bestand, oder auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die schließlich als parteinahe Stiftung in den Genuss von Bundesmitteln kam, als die ihr nahestehende Partei PDS, dann Die Linke, stärkere politische Anerkennung in der deutschen Öffentlichkeit erfuhr.
All das ist grundsätzlich bekannt, doch wichtige Einzelheiten, vor allem die zum Verständnis des Ganzen unerlässliche „atmosphärische“ Seite, erschließen sich nur durch die Autobiografien der Beteiligten. Wenn sie als Chronisten und Akteure sozialer Wandlungsprozesse Rechenschaft über ihr Tun ablegen, als Historiker aber auch kritische Distanz zu sich selbst beziehen, lohnt die Lektüre. In den beiden hier anzuzeigenden Autobiografien ist dies der Fall, ohne kritische Fragen an ihre Autoren auszusparen.
Walter Schmidt, geboren 1930 in Protsch-Weide bei Breslau, und Ludwig Elm, geboren 1934 in Greußen in Nordthüringen, stiegen zu wichtigen Historikern nach einem Bildungsweg auf, der nicht untypisch für Angehörige ihrer Generation in der DDR war. Dabei wurde der vier Jahre ältere Schmidt in viel stärkerer Weise durch Kindheit und Jugend im Hitler-Regime geprägt als Elm: Der zwölfjährige Schmidt musste erleben, wie sein Vater als Widerstandskämpfer nach dem „Volksgerichtshof“-Urteil hingerichtet wurde.
Beide Historiker nutzten die ihnen im Osten Deutschlands gebotenen Chancen: Walter Schmidt studierte nach dem Abitur in Greiz 1949 bis 1953 in Jena Geschichte und Slawistik und arbeitete anschließend am Institut (später: Akademie) für Gesellschaftswissenschaften in Berlin. Nach Promotion und Habilitation wurde er dort Professor für Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, bevor er 1984 die Direktion eines „Leitinstituts“ der DDR, des Zentralinstituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften, übernahm. 1990 ging er in den Vorruhestand.
Ludwig Elm absolvierte eine Lehre als Landwirtschaftsgehilfe, studierte 1952 Landwirtschaft an der Humboldt-Universität, 1953 bis 1956 Geschichte und Philosophie in Leipzig. Sein weiterer Weg vollzog sich an der Universität Jena, wo er nach Promotion und Habilitation Professor für Wissenschaftlichen Sozialismus mit Schwerpunkt Geschichte wurde. Während Schmidt sich hauptsächlich der Revolution von 1848–49 sowie ihrer Vor- und Nachgeschichte zuwandte, forschte Elm vor allem über bürgerlich-liberale Parteien und Verbände im Wilhelminischen Deutschland sowie über konservative Strömungen und Ideologien in der Bundesrepublik. Er war langjähriger Prorektor für Gesellschaftswissenschaften an der Universität Jena. 1991 musste auch er in den Vorruhestand gehen.
Beide Historiker scharten um sich einen Schülerkreis (hierzu erfährt man mehr bei Schmidt als bei Elm) und verbanden Wissenschaft mit der Nähe zur Politik (Elm als Volkskammer-Abgeordneter mehr als Schmidt). Die ausführliche Schilderung ihres wissenschaftlichen Tuns liest mit Gewinn, wer Schaffensprozesse von Historikern verstehen will. Gleichwohl hätte der Rezensent mehr über die Konflikte erfahren, die es zweifellos gab. Elm etwa beschreibt kurz seine Begegnung mit dem Dissidenten Jürgen Fuchs, der ihn an seine Exmatrikulation von der Universität Jena aus politischen Gründen erinnerte (die Elm nicht betrieben hatte). Insgesamt gewinnt man den Eindruck zweier in Grenzen kritischer, persönlich ehrenhafter und politisch nicht korrumpierter Wissenschaftler, die aber auch manche Probleme zu lange verdrängten.
Schmidt und Elm suchen mit Recht die Gründe für das Scheitern der DDR in den inneren Defiziten des Systems. Doch die grundsätzliche Entfremdung großer Teile der DDR-Intelligenz von der Masse der Bevölkerung klingt bei beiden nur an – und ebenso die Frage, ob die Arbeiterklasse überhaupt imstande war und ist, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, wie es Marx und Engels prognostizierten.
Mit vollem Recht aber verteidigen Schmidt und Elm ihr wissenschaftliches Wirken und das ihrer Schüler gegen die nach 1990 modisch gewordene Abwertung. Als international herausragender Forscher zur 48er-Revolution gab Schmidt vielen ihrer bislang wenig bekannten Akteure Gesicht und Stimme. Elm legte in seinen Forschungen zum westdeutschen Konservatismus dessen (nicht durchgängigen, aber doch zahlreichen) Verbindungen zum antidemokratischen Denken der Weimarer Republik, zum Faschismus wie zum Rechtsextremismus der Nachkriegsjahre offen; ein Problem, dem sich der Hauptstrom bundesdeutscher Historiker erst jüngst zugewandt hat. Beide blieben ihrer sozialistischen Haltung treu: Schmidt gehört noch immer der Partei Die Linke an, Elm war für die PDS in der Enquete-Kommission des Bundestages tätig, die sich mit der Aufarbeitung der DDR befasste. Er verließ die Partei Die Linke jedoch 2008, enttäuscht vom, wie er es sieht, Anpassungskurs an den Zeitgeist. Der zeige sich auch darin, dass „vor allem Westdeutsche vom ostdeutschen linken Wählerpotenzial profitierten“, indem sie gutdotierte Positionen als Mandatsträger und im politischen Apparat der Partei einnähmen. Unter Schmidts zahlreichen Aktivitäten als, wie er schreibt, „Privatgelehrter“ seien sein großes Engagement für die Fortführung der Marx-Engels-Gesamtausgabe und seine Arbeit in der Leibniz-Sozietät hier wenigstens genannt. Gut sind auch seine selbstkritischen Bemerkungen über die von ihm lange verfochtene These einer selbständigen DDR-Nation; eine Auffassung, die jedoch im Lichte des Auseinanderdriftens von Ost- und Westdeutschland heute ein Körnchen an Wahrheit (wenn auch nicht mehr) enthält.
Beide Arbeiten sind gut geschrieben, sparen auch (vor allem Schmidt) Privates nicht aus, wenngleich der Stil hier wie dort mitunter zu referierend wirkt. In Elms Manuskript hat ein uneinsichtiges Verlagslektorat über den ganzen Text hinweg das Binnen-I hineingepresst. Vielleicht bedarf es neuer, ebenso bitterer wie hoffentlich heilsamer Erfahrungen, bevor die Menschen erkennen, dass es zwar schwieriger, doch lohnender ist, die Verhältnisse zum Besseren, statt die Sprache zum Schlechteren zu verändern.
Walter Schmidt: Erinnerungen eines deutschen Historikers. Vom schlesischen Auras an der Oder übers vogtländische Greiz und thüringische Jena nach Berlin. Trafo-Verlag, Berlin 2018, 562 Seiten, 29,80 Euro.
Ludwig Elm: Geschichte eines Historikers. Erinnerungen aus drei deutschen Staaten. PapyRossa Verlag, Köln 2018, 395 Seiten, 28,00 Euro.
Schlagwörter: Autobiografie, DDR, Geschichtswissenschaftler, Ludwig Elm, Mario Keßler, Walter Schmidt