22. Jahrgang | Nummer 14 | 8. Juli 2019

Verrückt nach Italien

von Mathias Iven

Zwar quälte ihn seit Kindertagen die Angst vor Eisenbahnfahrten, dennoch reiste Sigmund Freud leidenschaftlich gern. Wenigstens einmal im Jahr wollte er das Gewohnte und Vertraute mit all seinen Zwängen und familiären Ritualen hinter sich lassen. Abgesehen von Kuraufenthalten in Karlsbad oder Bad Gastein, von Sommerfrischen mit der Familie in Berchtesgaden oder der Hohen Tatra – sein erklärtes Reiseziel war Italien. Nahezu zwanzig Mal machte er sich zwischen 1895 und 1923 auf in Richtung Süden. Er besuchte Padua, Bologna, Siena, Orvieto und Mailand. Sein Weg führte ihn nach Neapel, Sorrent, Amalfi, Pompeji und auf die Insel Capri. Auf zahllosen Postkarten berichtete er der Familie von seinen „Ruinenausflügen“. Ravenna schien ihm anfangs „ein elendes Nest“ zu sein, doch schon ein paar Stunden später vermeldete er, der Aufenthalt dort sei „noch sehr genußreich geworden“. Pisa, welche Enttäuschung, beschrieb er als „eine todte wüste Stadt, volle italienische Schweinerei“, wohingegen Florenz „ein toller Zauber“ war. Sichtlich beeindruckt war Freud von Sizilien: „Soviel an Farbenglanz, Wolgerüchen, Aussichten – u Wolbefinden habe ich noch nicht beisammen gehabt.“ (Schreibweise nach dem Original – d. Red.)
Martha Freud konnte der Vorliebe ihres Mannes für solcherart Bildungsreisen nie etwas abgewinnen. Doch ohne Begleitung unterwegs zu sein – wie es auf einer einwöchigen Tour durch Oberitalien im September 1898 geschah –, war für Freud undenkbar. „Alleinsein“, so gestand er ihr, „ist sehr komisch“. Der „nächste und billigste Reisegefährte“ war sein jüngerer Bruder Alexander, zumal dieser Freuds Sehnsucht nach dem Süden uneingeschränkt teilte. Mehrmals reisten die beiden zwischen 1895 und 1905 nach Italien. Die Verteilung der Aufgaben bei der Vorbereitung war klar geregelt. Alexander, der 1897 ein Eisenbahn-Stationsverzeichnis für Österreich-Ungarn veröffentlicht hatte und seither als nationale Autorität auf dem Gebiet des Transport- und Tarifwesens galt, suchte die schnellsten Verbindungen und die schönsten Routen heraus. Sigmund seinerseits war für die Festlegung der Besuchsprogramme verantwortlich. Daneben wurde Freud auf seinen Reisen wiederholt von seiner seit 1896 im familiären Haushalt lebenden Schwägerin Minna Bernays begleitet. Vier Mal war sein Budapester Schüler und Kollege Sándor Ferenczi an seiner Seite, den Freud als eine „liebenswerte, menschenfreundliche, allem Bedeutenden aufgetane Persönlichkeit“ schätzte.
Gemeinsam mit Alexander reiste Freud im September 1901 nach Rom, für ihn „die Erfüllung eines lange gehegten Wunsches: ein Höhepunkt des Lebens“. Schon im Dezember 1897 hatte er seinem Berliner Freund und Vertrauten Wilhelm Fließ gegenüber geäußert: „Meine Rom-Sehnsucht ist übrigens tief neurotisch.“ Sechs Tage nach seiner Ankunft erklärte er seiner Frau kurz und bündig: „Es ist zu herrlich u ich war noch nie so wol.“ Als Freud sich im September 1907 erneut in Rom aufhielt, schrieb er am Ende eines an die Familie gerichteten Briefes: „Schade, daß man hier nicht dauernd leben kann. Von diesen kurzen Besuchen hat man nichts als ungestillte Sehnsucht u die Empfindung der Unzulänglichkeit aus allen Seiten.“
Sieben Mal weilte Freud in der italienischen Hauptstadt, insgesamt verbrachte er dort 57 Tage. Im September 1923 kam er in Begleitung seiner Tochter Anna. Kurz. Nach ihrem Eintreffen sandte er die folgenden Zeilen an Lou Andreas-Salomé: „So bin ich wieder in Rom und merke, es wird mir wohltun. Was für eine gute Gesellschaft meine kleine Tochter ist, merke ich erst hier.“ Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit – im Frühjahr war ein Krebsgeschwür in seiner Mundhöhle diagnostiziert worden und er hatte sich einer ersten Operation unterziehen müssen – absolvierten Vater und Tochter in den folgenden drei Wochen ein an die Grenzen der Kondition gehendes Besichtigungsprogramm. Auf der letzten, am 16. September 1923 geschriebenen Postkarte hieß es: „Um den Abschied zu erleichtern, ist heute wieder Scirocco u die Kieferreaktionen belästigen mich mehr denn je.“ Freud sollte Rom nie wieder sehen.
Was Sigmund Freud ansonsten im Land seiner Träume erlebte, das schildert der Journalist Jörg-Dieter Kogel mit Bravour und Sachverstand in seiner jüngsten Veröffentlichung. Außerdem zeigt er, wie und welche Reiseeindrücke Eingang in Freuds wissenschaftliches Werk fanden. Ein alles in allem äußerst anregendes Buch, das zum Begleiter für die nächste Italienreise werden sollte.

Jörg-Dieter Kogel: Im Land der Träume. Mit Sigmund Freud in Italien, Aufbau Verlag, Berlin 2019, 252 Seiten, 24,00 Euro.