von Ulrich Kaufmann
Franz Kafka (1883–1924), der berühmteste unter den Prager deutschen Schriftstellern, ist wenig gereist. Seine Diarien enthalten drei „Reisetagebücher“, die auf Paris und Lugano verweisen. Eine dritte „Ferienreise“ führt ihn Ende Juni, Anfang Juli 1912 nach Weimar, die Stadt an der Ilm. Der Dichter reist gemeinsam mit seinem Entdecker, Förderer und Freund, dem Schriftsteller Max Brod. Ihm verdankt die literarische Welt, dass sie Kafka kennt. Kafka hatte den Freund gebeten, nach seinem Ableben sämtliche Manuskripte zu vernichten. Brod tat dies nicht, sondern edierte und kommentierte dessen Romane und Erzählungen.
Durch die Lektüre der Tagebücher, Gedichte und der Autobiographie Goethes bereitet sich der vormalige Germanistikstudent Kafka auf seine Weimar-Reise vor. Aus Leipzig kommend, begibt sich der reisemüde Kafka auf die Quartiersuche. „Langer Weg zum Hotel Chemnitius. Fast den Mut verloren. Suchen der Badeanstalten. Dreiteilige Appartements, die man uns anweist. Max soll in einem Loch mit einer Luke schlafen. Freibad am Kirschberg. Schwanensee.“ Von diesem Domizil aus, das heute ein Teil des Hotels „Anna Amalia“ ist, erkunden die beiden Tag für Tag die Stadt. In der Nacht des ersten Tages ziehen die Prager zum Goethe-Haus. „Sofortiges Erkennen. Gelbbraune Farbe des Ganzen. […] Das Dunkel der Fenster der unbewohnten Zimmer.“ Kafka besucht am Folgetage nacheinander das Schiller- und das Goethe-Haus.
Mit Räumlichkeiten Goethes wird der Besucher nicht recht warm. „Flüchtiger Anblick des Schreib- und Schlafzimmers. Trauriger, an tote Großväter erinnernder Anblick. […] Die sein Arbeitszimmer verdunkelnde Buche.“
Gleich am ersten Besuchstag interessiert den fast Dreißigjährigen eine andere Person mehr: Die 16 Jahre junge Tochter des Hausherren (Hausmeisters), die auf den Namen Gretchen hört. Für Kafka ist es schwer, mit dem Mädchen allein zu sein. Die Schwestern umgeben sie und der Vater bleibt in der Nähe. Über das Äußere der Angebeteten erfährt der Leser des Tagebuchs wenig. „Ihre Beweglichkeit des Körpers im losen Kleid. […]“ Gegen Ende des Weimar-Aufenthalts erinnert sich der unglücklich Verliebte erneut an sein Domizil. „Gehe ins Hotel, sitze ein Weilchen bei Max, der im Bett liegt.“
Ein „einstündiger Spaziergang“ gelingt dem Dichter erst am vorletzten Tag. Gretchen ist in Gedanken an ihren abendlichen Ball versunken. „Ohne jede Beziehung zu ihr gewesen. Abgerissenes immer wieder angefangenes Gespräch.“ Zu einem „Gretchen-Erlebnis“ werden die Weimarer Tage Kafkas nicht.
Die Dichterfreunde absolvieren ein volles Programm. Sie sind in den Parks zu Tiefurt und Belvedere, besuchen das Liszt-Haus, die Fürstengruft und die Herzogliche Bibliothek. Nach einem „vergeblichen Besuch im Goethehaus“ sitzt Kafka im Goethe-Schiller-Archiv. „Briefe von Lenz“, „Brief der Frankfurter Bürger an Goethe, 28. August 1830.“ Auf einer halben Seite zitiert Kafka in seinem Tagebuch ein Dokument, das zeigt, wie gern die Frankfurter mit ihrem Goethe einmal gemeinsam Geburtstag gefeiert hätten.
Zwei Monate später, am 21. August, denkt Kafka an Weimar zurück. „Unaufhörlich Lenz gelesen und mir aus ihm – so steht es mit mir – Besinnung geholt.“ Der geniale, kranke, gescheiterte Dichter und einstmalige Goethe-Freund Jakob Michael Reinhold Lenz, der leicht entflammbar war und bei Frauen wenig Glück hatte, wird für Kafka zu einem Bruder in der Not.
Beide Dichter starben mit 41 Jahren.
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