von Waldemar Landsberger
Bei einem Treffen der EU-Innenminister in Helsinki am 17. und 18. Juli kam es erneut nicht zu einer EU-europäischen Übergangsregelung zur Verteilung von aus dem Mittelmeer geretteten Flüchtlingen. Deutschland und Frankreich hatten versucht, eine solche Regelung zu erreichen, um zu verhindern, dass Italien und Malta Schiffen mit geretteten Menschen weiterhin die Einfahrt in ihre Häfen untersagen. Beide Staaten hatten dies in der Vergangenheit mehrfach praktiziert, um mit der Verantwortung für die Migranten nicht allein gelassen zu werden.
Als Ziel war anvisiert, mindestens 15 EU-Staaten für eine Aufnahme-„Koalition der Willigen“ zu gewinnen. Zugesagt haben nicht einmal zehn. Einziges Ergebnis: Die Gespräche sollen fortgesetzt werden.
Als „das neue Gesicht der Flüchtlingskrise“ rückten die Medien seit Ende Juni Carola Rackete in den Fokus der Aufmerksamkeit. „Sie hat sehr viel für die Sache getan. Durch diese Geschichte bekommt das Sterben im Mittelmeer wieder die notwendige Aufmerksamkeit in den Medien. Dafür hat sie sich geopfert und ihr gilt mein tiefer Respekt“, hieß es im Internet.
War es eine bewusste Provokation der jungen Frau, um der offiziellen Abschottungspolitik Italiens und der EU den Spiegel vor das Gesicht zu halten?
Zunächst die Fakten: Das private Rettungsschiff „Sea-Watch 3“ hatte mit ihr als Kapitänin am 12. Juni vor der Küste Libyens 53 Flüchtlinge an Bord genommen. Elf Kinder, Frauen und Gebrechliche durften zwischenzeitlich nach Italien gebracht werden, die übrigen blieben auf engstem Raum mit den 22 Besatzungsmitgliedern auf dem Mittelmeer unterwegs. Am Ende fuhr sie mit dem Schiff entgegen dem Verbot der italienischen Regierung in den Hafen von Lampedusa, um die 42 Flüchtlinge sicher an Land zu bringen. Dabei touchierte die Sea-Watch leicht ein Patrouillenboot der Polizeitruppe Guardia di Finanza, das ihr den Weg verlegen wollte. Rackete wurde zunächst verhaftet, dann per Gerichtsbeschluss freigelassen und lebt seither geschützt in Italien – weil sie nicht nur Glückwünsche, sondern auch massive Drohungen erhielt, die die Polizei sehr ernst nimmt – und wartet auf den Fortgang des gerichtlichen Verfahrens.
Die Großmedien, insbesondere in Deutschland, warfen sich zunächst auf die Biographie der Kapitänin. Die 31-Jährige wurde in Preetz bei Kiel geboren und wuchs in Hambühren, einer 10.000-Einwohner-Gemeinde in Niedersachsen, auf. Der Vater war früher bei der Bundeswehr und arbeitete dann in der Rüstungsindustrie. Der Presse sagte er, er sei stolz auf seine Tochter, die entschlossen für das einsteht, was ihr wichtig ist, könne sich jedoch nicht erklären, wie sich seine Tochter politisiert habe und weshalb sie sich schließlich für die Seenotrettung im Mittelmeer entschied.
Nach dem Abitur im Jahr 2007 studierte Rackete erst Nautik an der Seefahrtschule in Elsfleth. 2015 bis 2018 studierte sie an der Edge Hill University in England „Conservation Management“ und machte dort ihren Master. Das ist eine umwelt- und naturwissenschaftliche Disziplin, die sich damit beschäftigt, eine Spezies oder ein Habitat zu schützen und in den Wechselbeziehungen zwischen Natur und Mensch so zu erhalten und zu bewahren, dass die menschliche Nutzung der natürlichen Ressourcen die Artenvielfalt und die Habitate nicht beeinträchtigt oder gar zerstört. (Wer englische Universitäten kennt, weiß, dass dort allerlei Trotzkisten herumlaufen, die predigen, dass man gegen den feindlichen kapitalistischen Staat und angesichts einer trägen, reaktionären Bevölkerung durch spektakuläre Einzelaktionen die Massen aufrütteln und zum Handeln anregen soll.)
Dass sie gern im Zentrum der Aufmerksamkeit stehe, weist Carola Rackete zurück. Gleichwohl sagt sie im Interview: „Der Rechtsruck in Europa findet schon lange statt. Ich denke, was man braucht, ist die Aufmerksamkeit in der Mitte der Gesellschaft. Da sollte allen klar sein: Dass jemand verhaftet wird, weil Menschen gerettet werden – das geht einfach nicht.“ Ganz in diesem Sinne hatten Politiker und Prominente, darunter Bundespräsident Steinmeier, Außenminister Maas sowie Luxemburgs Außenminister Asselborn, die italienische Regierung kritisiert, wozu sie sich zuvor nicht wirklich aufraffen konnten. In der europäischen Presse schlug der Vorfall hohe Wellen. Eine Spendenaktion nach ihrer Verhaftung erbrachte in kürzester Zeit über eine Million Euro.
Die für das Kapitänspatent notwendigen Fahrenszeiten als Wach- und Sicherheitsoffizier absolvierte Rackete zunächst bei der Kreuzfahrtreederei Silverseas Cruises. Als Nautikerin lenkte sie die „Polarstern“, den Forschungseisbrecher des Bremer Alfred-Wegner-Instituts, später die „RRS James Clark Ross“, das Schiff eines britischen Polarwissenschaftsprogramms, dann war sie monatelang an Bord der „Arctic Sunrise“, die Greenpeace für Kampagnen und eigene Forschung nutzt. Im Mai 2016 schloss sie sich den Seenotrettern an.
Eine wichtige Rolle in den Medien-Darstellungen spielt die Motivation Racketes. Über ihre Polar-Expeditionen berichtet sie, die Kältezonen seien „schön und sehr inspirierend“, sie habe jedoch die „traurige“ Erkenntnis gewonnen, „was Menschen dem Planeten antun“. Doch die Menschen täten nicht nur ihrem Planeten viel an, sondern fügten sich auch „gegenseitig Schaden zu“. So schaue die europäische Bevölkerung zu, wie die europäischen Regierungen am Mittelmeer eine Bastion gegen Flüchtlinge errichteten.
Rackete spricht vier Sprachen (manche Zeitungen schreiben: fünf) und sieht sich selbst als „privilegiert“ an. Gegenüber La Repubblica äußerte sie: „Ich bin weiß, Deutsche, in einem reichen Land geboren und habe den richtigen Pass. Ich fühle die moralische Pflicht, denen zu helfen, die nicht die gleichen Chancen haben.“ Diesen Ball nahm dann sogleich der italienische Innenminister Salvini auf, als er sagte, er werde sich nicht „von einer reichen deutschen Kommunistin“ an der Nase herumführen lassen.
In einem längeren Interview mit der Bild-Zeitung wurde sie grundsätzlicher. Auf den Einwand der Interviewer, dass auch in der „Mitte der Gesellschaft“ viele betonten, die EU könne nicht noch mehr Flüchtlinge aufnehmen, entgegnete sie: „Asyl kennt keine Grenze!“ Die Situation werde noch schwieriger. „Der Zusammenbruch des Klimasystems sorgt für Klima-Flüchtlinge, die wir natürlich aufnehmen müssen. Es wird in einigen Ländern Afrikas, verursacht durch industriereiche Länder Europas, die Nahrungsgrundlage zerstört.“ Es solle nicht mehr unterschieden werden zwischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten. Wir kämen „jetzt zu einem Punkt, wo es ‚forced migration‘ gibt, also eine durch äußere Umstände wie Klima gezwungene Migration. Und da haben wir dann keine Wahl mehr und können nicht einfach sagen, dass wir die Menschen nicht wollen.“ Europa habe eine Verantwortung, die auch aus den Folgen der Kolonialzeit resultiere.
Hier geht es also um viel mehr als die Aufnahme einer begrenzten Zahl von Bootsflüchtlingen. Wer die Grenzen unbegrenzt öffnet, muss wissen, dass sämtliche Sozialsysteme dann nicht mehr aufrechtzuerhalten sind. Die berühmte pseudo-linke Illusion, das Geld komme aus dem Geldautomaten oder sei im Smartphone, ohne darüber nachzudenken, wie es da reinkommt, blitzt hier wieder auf. Auch sieht niemand in Osteuropa oder in den Balkanländern, die selbst jahrhundertelang „Kolonien“ der Osmanen, der Romanows oder der Deutschen und Habsburger waren, ein, dass er für die Spätfolgen der früheren westeuropäischen Kolonialmächte mitverantwortlich sein soll.
Der Graben durch die EU in der Flüchtlingsfrage ist tiefer, als dass nur verbohrte nationalistische Ideologen daran schuld wären. Die Bild-Zeitung befragte den CDU-Bundestagsabgeordneten Patrick Sensburg, der gleich betonte, dass es den „Klimaflüchtling“ nach Genfer Konvention und deutschem Asylrecht nicht gäbe.
Der Medien-Krieg um die Flüchtlinge aus dem Mittelmeer hat seinen Höhepunkt noch lange nicht überschritten.
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