von Wolfgang Brauer
Die Stadt ist schön, zweifellos. Sie strahlt Ruhe aus. Die sie umgebenden Wälder sind schön. Und es ist ein beglückendes Gefühl, im Sommer in die Fluten des Ruppiner Sees zu tauchen. Nur: Schönheit kann man nicht essen, und manchen, die hier leben müssen, ist es ein wenig zu viel der Ruhe: „Sie gleicht einem auf Auswuchs gemachten großen Staatsrock, in den sich der Betreffende, weil er von Natur klein ist, nie hineinwachsen kann. Dadurch entsteht eine Öde und Leere, die zuletzt den Eindruck der Langenweile macht.“ So beschreibt Theodor Fontane die Stadt im 1. Kapitel des Neuruppin-Abschnittes seiner „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“.
Das mit dem zu großen Staatsrock hat sich bis heute nicht geändert. Schuld sind der verheerende Stadtbrand des Jahres 1787 und das Militär, auf dessen Gier nach Exerzierplätzen man beim Wiederaufbau Rücksicht nahm. Aber Fontane tat sich immer schwer mit seiner Geburtsstadt und die mit ihm – trotz des auch künstlerisch bemerkenswerten Denkmals von Max Wiese aus dem Jahre 1907. 1998 verpassten die Stadtoberen ihr den Beinamen Fontanestadt. Das war ein Fehler. Der brachte Neuruppin 2019 die zweifelhafte Ehre ein, zum Hauptort eines Events zu werden, dessen Leitausstellung – welche Anmaßung steckt hinter dem Begriff! – den seltsamen Titel „fontane.200/Autor“ trägt. Die Tourismuswerber weisen in ihren Veranstaltungskatalogen auf den dahinterstehenden Inhalt hin: „Der Vertreter des poetischen Realismus wird als Wortsampler, Schreibdenker und Textprogrammierer präsentiert.“ Ein Wortsampler. Kein Künstler, ein Programmierer. Aha. Damit wird der arme Kerl, der sich nun wirklich nicht mehr wehren kann, in die Generation Twitter gezerrt. In der über 100-jährigen Geschichte des Fontane-Missbrauchs ist das immerhin noch einer der verzeihbarsten Missgriffe.
Seien wir dennoch mutig und steigen tapfer die Treppe zum Eingang des Museums Neuruppin hinauf, das wir dank einer bemerkenswerten Sonderausstellung über die „Faszination Papiertheater“ in guter Erinnerung haben. Wir durchschreiten die Pforte und werden von freundlichem Personal empfangen. Alles scheint besser zu werden als befürchtet. Aber dann kommt die Farbe Gelb.
Gelb? Warum zum Teufel springt einen dieses giftige Gelb in jedem Raum an? Wir quälen uns durch die 1. Etage des Hauses und landen schließlich in einem Eckkabinett, das uns Aufklärung zu geben scheint. Das Zimmerchen wird von einem gelben Gummiball dominiert, der sich als Globus ausgibt, daneben ein – natürlich gelbes – Pappschild. „Glücksarten“ steht in schwarzer Schrift drauf. Das bezieht sich auf einen danebenstehenden Auszug aus dem Roman „Die Poggenpuhls“, genauer auf die Situation, in der Leo von Poggenpuhl dem Dienstmädchen Friederike zu erklären versucht, wo Afrika liegt. Er benutzt ein Stück Edamer, gelben Käse also, als Globus. Die Farbe des Käses war es …
Kuratiert wurde die Ausstellung von der Marbacher Literaturwissenschaftlerin Heike Gfrereis. Sie erklärt die Leitfarbe mit dem scharfen Instrumentarium der Linguistin: „Fontane hat sehr viele Bezeichnungen für gelb: Erbsengelb, Schwefelgelb, Graugelb, Effi Briest fürchtet sich vor einem Chinesen in gelben Pluderhosen.“ Das mit dem Käse ist überzeugender.
Nachdem man sich durch unendlich erscheinende Raumfluchten mit Neuruppiner Stadtgeschichte geschlagen hat, alle dekoriert mit den edamergelben Wörter-Tafeln, stößt man auf ein kleines Kabinett, das zum Ausruhen einlädt. In zwei Regalen stehen Fontane-Ausgaben, in denen man blättern kann. Das linke enthält nur gelbe Büchelchen. Es sind die Bändchen von Reclams Universalbibliothek. Das erklärt alles. Jedes Schulkind weiß: gelber Umschlag, schwarze Schrift … Nicht verständlich ist allerdings, dass die Büchelchen angebunden sind. Das Haus Reclam hat mit diesem Autor Millionenumsätze gemacht. Ein wenig generöser hätte der Verlag sich schon zeigen können.
In dieser Ecke darf man sich selber Wortungetüme à la Fontane ausdenken und wenn nicht der staunenden Nachwelt, so doch den staunenden Nachbesuchern hinterlassen.
Andächtiges Schweigen ist jedoch in einem halbdunklen Saal verlangt, den man vor dem dramaturgischen Höhepunkt der Schau durchschreiten muss. In einer raumfüllenden Vitrine liegt die Mehrzahl erhaltener Notizbücher des Dichters und Journalisten aus dem Bestand der Berliner Staatsbibliothek durcheinandergewürfelt auf diversen Papierbergen. Einige sind aufgeschlagen und werden während der Dauer der Ausstellung siebenmal umgeblättert, wie den interessierten Besuchern mitgeteilt wird. Ich sah einen mit leicht zittriger Hand hingestrichelten Grundriss der Friedhofskapelle von Bad Kissingen. Die Zeichnung interessierte mich, doch wahrscheinlich sah nur der Zeichner selbst in seiner Kritzelei mehr als ein paar Bleistiftstriche. Das ist aber das Wesen von Notizbüchern. Den eingefleischten Preußen Fontane scheint das Bauwerk auch nicht sehr nachhaltig erschüttert zu haben – in seinem zweibändigen Wälzer über den „Deutschen Krieg“ von 1866 ist die Anekdote über die Geschichte eines gusseisernen Grabkreuzes („Hier ruht ein tapferer Bayer“) neben dieser Kapelle entschieden eindrucksvoller.
Die 67 Notizbücher sind in einem von der profunden Fontane-Kennerin Gabriele Radecke (Universität Göttingen) vorbildlich edierten Digitalisat problemlos nachlesbar. Man muss sich wirklich nicht siebenmal den Terror der Farbe Gelb antun.
Der erwähnte dramaturgische Höhepunkt der Schau ist natürlich ein „Effi“-Saal. Wer hat schon „Der Stechlin“ zu Ende gelesen … Gestalterisch ist der erste Eindruck des Raumes schon erheblich. Man läuft über eine Art Teppich, auf dem von A wie „Abend“ bis Z wie „Zärtlichkeit“ Substantive – „Leitmotive und Schlüsselwörter“ – aus dem berühmtesten Roman des Meisters abgedruckt sind. Darüber spannen sich mit Zitaten beschriebene Plastik-Absperrbänder, Pappkästen verbindend, die von C wie „Chinese“ bis R wie „Roswitha“ beschriftet sind. Das soll die Beziehungen zwischen den handelnden Personen des Romans visualisieren. Selbst der Hund Rollo findet Berücksichtigung. Im Deutschunterricht nennt man so etwas „Darstellung der Figurenkonstellation“, und irgendwie wirkt das Ganze tatsächlich wie die Projektarbeit eines Deutschkurses in der Einführungsphase zur gymnasialen Oberstufe.
Dagegen will die Schau aber irgendwie Position beziehen. Charlotte Pollex von rbb Kultur zitiert die Kuratorin: „Heike Gfrereis hofft, dass sie mit ihrer Begeisterung für Fontane auch andere ansteckt. Vielleicht auch die, die in der Schule unter ihm gelitten haben.“ Die Frau versteht viel von Fontanes Wörtern, von Schule versteht sie wenig. Unter Theodor Fontane leiden keine einzige Schülerin und kein einziger Schüler in Deutschland. Die leiden – wenn sie Pech haben – unter einem grottenschlechten Literaturunterricht miserabler Deutschlehrer, der ihnen die Lektüre bestimmter Autoren verleidet, weil sie nun mal Prüfungsstoff für das Abitur sind. Dafür kann wiederum kein Deutschlehrer etwas. Den literaturfeindlichen Terror organisieren die Kultusministerien. Fontane allerdings hat Pech. Er ist eben wegen seines Jubiläums derzeit zumindest in Berlin und Brandenburg Prüfungsstoff. In zwei Jahren sind andere Autoren fällig.
Natürlich steht hinter dem ganzen Aufwand die entscheidende Frage, ob und weshalb man heute Fontanes Romane überhaupt noch lesen könne. „Weil sie uns zeigen, wie sehr sich jede und jeder von uns mit der Sprache erfindet“, belehrt eine Inschrift im „Effi“-Saal den verblüfften Besucher. Mehr soll da nicht sein? Gründlicher kann man einem Weltautor, in dessen Lebenswerk sich der Aufstieg der „nervösen Großmacht“, wie Volker Ullrich treffend das wilhelminische Kaiserreich bezeichnete, in all seinen Facetten widerspiegelt, die gesellschaftliche Relevanz nicht austreiben. Mir scheint, das ist Absicht. Diese Schau sagt viel über ihre Macherinnen und den Zustand der deutschen akademischen Literaturforschung aus. Wer aber Näheres über Theodor Fontane erfahren will, sollte den Weg in die nächstgelegene Bibliothek oder Buchhandlung suchen. Die Neuruppiner gleich neben der „Löwen-Apotheke“, dem Geburtshaus des Dichters, ist in Sachen Fontane recht gut sortiert. Selbst die Buchhandlung des Museums hat mit Iwan-Michelangelo D’Apriles „Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung“ den Kontrapunkt zu dieser bemühten „Leitausstellung“ im Angebot.
In den eingangs zitierten Neuruppin-Kapiteln der „Wanderungen“ widmet sich Fontane ausführlich dem ebenfalls aus dieser Stadt stammenden Orient-Maler Wilhelm Gentz. Voller Genuss zitiert er dessen Kindheitserinnerungen: „Ich erinnere mich noch des seligen Gefühls, als ich im Postwagen saß und meiner Vaterstadt Lebewohl gesagt hatte.“ So erging es mir, als sich die Tür des Neuruppiner Museums hinter mir schloss.
Fontane.200/Autor. Museum Neuruppin bis 30.12.2019, Mo, Do–So und feiertags 10–18 Uhr, Mi 10-19 Uhr, Di geschlossen.
Schlagwörter: Heike Gfrereis, Literatur, Neuruppin, Theodor Fontane, Wolfgang Brauer