22. Jahrgang | Nummer 13 | 24. Juni 2019

Wo der Sensenmann mit Willi Millowitsch schunkelt

von Bettina Müller

Zartbesaiteten Naturellen wird vorab folgender Ratschlag mit auf den Weg über den altehrwürdigen Kölner Friedhof Melaten gegeben, der zu den schönsten historischen Gottesackern Deutschlands gehört: Geben Sie Obacht im Flur 82. Kommt der ahnungslose Besucher nämlich entspannt um die Ecke geschlendert, hat vielleicht gerade noch tief durchgeatmet, weil das viele Grün auf diesem Friedhof endlich mal für gute Luft in der feinstaubgeplagten Großstadt sorgt, da steht er nämlich plötzlich auf einmal vor einem: der Sensenmann. Seine langen und knochigen Finger umklammern eine Laterne. Symbolik mit der Brechstange, deutlicher geht es nun wirklich nicht: Das Ende ist unausweichlich. Diese außergewöhnliche Stein-Skulptur des Bildhauers August Schmiemann, der unter anderem auch den „Kiepenkerl“ in Münster schuf, ist wohl das skurrilste Werk aller Kölner Friedhöfe.
Am 29. Juni 1810 weihte Dompfarrer Michael Joseph Dumont den Melatenfriedhof ein, der aus rein hygienischen Gründen angelegt wurde. Schuld waren die Franzosen. Die französischen Besetzer, die 1794 in die Stadt eingefallen waren, brachten andere Sitten und Gebräuche mit und mit einem Beerdigungswesen innerhalb der Stadtmauern waren sie überhaupt nicht einverstanden, qelle horreur, da kann man sich ja die Lepra einfangen. Und so entstand aus dem französischen „malade“ für „krank“ im Laufe der Zeit die Bezeichnung Melatenfriedhof, der heute stadtauswärts an der Aachener Straße auf dem Gelände des ehemaligen Leprosenheims liegt.
Schon länger haben die furchtlosen Kölner diesen und zahlreiche andere Friedhöfe als Oase der Erholung entdeckt und bieten so dem Sensenmann Paroli. Vorbei sind die Zeiten, als man als Kulturinteressierte von aufmerksamen Besuchern als potentielle Grabräuberin misstrauisch beäugt wurde. Eine deutliche Wandlung der Friedhofskultur ist nun gerade in den letzten Jahren zu beobachten, die immer mehr auch zu einer Freizeitkultur wurde. So verwundert es nicht, dass die Stadt Köln in diesem Jahr vom 24. bis zum 30. Juni eine „Kölner Friedhofswoche“ veranstaltet, die von einem umfangreichen Programm mit Führungen, Gesprächen und Informationen begleitet wird und von dem man noch näher an die insgesamt 55 Kölner Friedhöfe herangeführt wird. Vor allem wird dabei auch ein neues Konzept gesucht, wie man die Friedhöfe noch stärker für die Bereiche Ökologie und Kultur nutzen könnte.
Besonders die historischen Friedhöfe der Großstädte mit ihren künstlerisch wertvollen Skulpturen, Ornamenten und anderen Besonderheiten üben zunehmend eine Faszination auf die Menschen aus, die den Schrecken des Todes vergessen lassen und der so in das Leben mit einbezogen wird. Andere Kulturen sind da deutlich weiter, vor allem in Mexiko, wo auf den Friedhöfen am alljährlichen „Dia de los muertos“ partyähnliche Stimmung herrscht. Ähnlich voll, aber natürlich deutlich verhaltener von der Stimmung her, war es zum Beispiel auf Melaten im Jahr 2016, als Guido Westerwelle am 2. April auf dem Melatenfriedhof an der „Millionenallee“ beerdigt wurde. Die Kölner strömten in Scharen herbei, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die „Millionenallee“ ist sozusagen der „Mercedes“ unter den Grabfluren. Hier wollten sie alle hin, die in Köln Rang und Namen hatten, um sich mit opulenten Gräbern, geschaffen von den bedeutendsten Bildhauern Deutschlands, ein Denkmal für die Ewigkeit zu setzen: Politiker, Künstler, Firmengründer, Kaufleute, Gewerkschaftsführer, Gelehrte et cetera – die Liste und Formensprache der Grabdenkmäler ist so endlos und reichhaltig wie die Kölner Stadtgeschichte, die sich dann auch auf den zahlreichen Friedhöfen widerspiegelt.
Mittlerweile kann man auf Melaten Patenschaften für einige der historischen Gräber erwerben, sorgt so für deren regelmäßige Pflege und hat so selber auch das Recht, im Schatten der wunderschönen Engelsskulpturen oder engelsgleichen Jünglinge bestattet zu werden. Manche Engel sind jedoch weniger freundlich, sie drohen, mahnen und rufen mit riesigen Raum einnehmenden Flügeln die Lebenden zur Ordnung und zum Glauben auf, sonst gehe das Ganze beim Jüngsten Gericht nicht gut für sie aus. Andere wiederum haben einen deutlich erotischen Touch, in dünnem Tuch aus Stein wird der Oberkörper nicht züchtig verhüllt. Viele sehen beängstigend real aus, trotz des Grünspans, der sich in den langen Jahren als Patina angesetzt hat.
Schon länger werden auf Melaten Führungen zu ganz verschiedenen Themenblöcken angeboten. Zuweilen kommt es dabei zu Verwechslungen. Der Besucher ist ratlos, weil der freundliche Herr ganz vorne nicht auf die üblichen Promis zu sprechen kommt, sondern stattdessen ständig von Karneval erzählt. In diesem Moment fehlt eigentlich nur noch der Bollerwagen mit dem Bierfass, um mit hellem Gerstensaft anzustoßen, doch das verbietet die Friedhofsordnung. So merkt der verwirrte Besucher zu spät, dass er sich aus Versehen der karnevalistischen Führung angeschlossen hat. In den Genuss von Bierausschank nach einer Führung, dann aber vor dem Tor, kann man nach der „Brauertour“ kommen, bei der die Gräbern bekannter Bierbrauerdynastien vorstellt werden, die natürlich auch in der „Millionenallee“ ruhen. „Wo liegt denn der Willi?“, hört man auch schon mal verwirrte Menschen ausrufen, die sich auf der Suche nach dem Bekanntesten aller Kölschen Karnevalisten auf dem riesigen Friedhofsareal verlaufen haben. Zu „uns Willi“ wollen sie natürlich, Willi Millowitsch, dem Prototyp des urkölschen Karnevalisten. Eine Hilfestellung: „Uns Willi“ liegt auf dem Flur 72A im Familiengrab der Millowitschs.
Interessierte Besucher auch ohne karnevalistische Neigungen sollten viel Zeit mitbringen, es gibt bei insgesamt 55.540 Grabstätten so Einiges an Kölner Geschichte und Kultur zu entdecken, aber natürlich nur dann, wenn man Flur 82 unbeschadet passiert hat… Dann steht einem Besuch der 54 anderen Kölner Friedhöfe auch nichts mehr im Wege.

Kölner Friedhofswoche vom 24.–30.6.2019.