von Jan Opal, Gniezno
In Polen waren die Wahlen zum Europäischen Parlament übersichtlicher – auf lediglich sechs Wahllisten bewarben sich Kandidaten um die Gunst der Wähler. Drei Gruppierungen waren gegen die geltende liberale Verfassung von 1997, drei verteidigten sie. In das Brüsseler Parlament schicken nunmehr drei Listen ihre Abgeordneten, die anderen scheiterten an der Fünfprozent-Hürde. 27 Abgeordnete darf das nationalkonservative Regierungslager schicken, 25 entfallen auf die Verfassungsseite. Noch enger erweist sich der Abstand, wenn die abgegebenen Stimmen derjenigen verglichen werden, die in das Parlament einziehen, denn die Abgeordneten der Nationalkonservativen erhielten bei 13,6 Millionen abgegebener Wählerstimmen nur knapp 116.000 Stimmen mehr als diejenigen des Verfassungslagers.
Erst wenn die abgegebenen Stimmen auf alle sechs Listen aufgeteilt werden, ergibt sich ein größerer Abstand. Die Gegner der Verfassung hätten dann einen rechnerischen Vorteil von immerhin 1,07 Millionen Stimmen mehr. Bedenklich daran ist, dass eine deutliche Mehrheit der jüngeren Wähler hier den fatalen Ausschlag gibt.
Rechts von den Nationalkonservativen gab es zwei konkurrierende Listen, die zwar den Einzug ins EU-Parlament verfehlten, doch insgesamt 1,12 Millionen Stimmen zusammenbrachten. Im Unterschied zu den Nationalkonservativen wird die EU in diesen Gruppierungen bereits offener angegriffen, wird die vergleichsweise zurückhaltende Rhetorik des Kaczyński-Lagers, in dem regelmäßig ein das Polentum herausfordernder EU-Sozialismus beklagt wird, bereits ins Extremistische gesteigert. Wie diese Kräfte nun nach der Niederlage, die zusammengerechnet nicht einmal eine war, zu den Parlamentswahlen im Herbst antreten werden, bleibt abzuwarten. Ein einheitlicher rechtsnationalistischer Block hätte angesichts der augenblicklichen Stimmung unter einem Großteil jüngerer Wählerschichten größere Chancen, in den Sejm einzuziehen. Das Kaczyński-Lager wird das aber wohl eher zu verhindern suchen.
Der Löwenanteil im Verfassungslager fiel auf die Europäische Koalition, die 22 Mandate eroberte. Davon werden in Brüssel 17 zu den Christdemokraten, fünf zu den Sozialdemokraten gehen. Außerdem kam Robert Biedrońs Frühlingspartei auf drei Sitze, die ebenfalls zu den Sozialdemokraten gehen werden. Während die Europäische Koalition in etwa jenen Stimmenanteil von 38,47 Prozent der abgegebenen Stimmen holte, mit dem man rechnen konnte, blieb Biedrońs Partei indes deutlich unter den eigenen Erwartungen. Das Ergebnis von nur 6,06 Prozent darf auch als Warnung verstanden werden, denn im Herbst dieses Jahres dürfte es viel schwerer werden, in das Parlament einzuziehen. Es liegt auf der Hand, dass die Wahlkampfstrategen der Nationalkonservativen bereits wieder mit der Möglichkeit spielen, dass das linksliberale und linksgerichtete Spektrum trotz etlicher zusammengerechneter Prozentpunkte doch wieder ohne Parlamentssitze bleibt. Das würde die Chancen kräftig erhöhen, die nationalkonservative Alleinregierung fortsetzen zu können. Den jetzt erreichten Wert von 45,38 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen hatte seit 1990 noch nie eine Gruppierung bei landesweiten Wahlen erreicht.
Insofern ist auch die Ankündigung der moderaten, wiewohl konservativen Agrarier bedeutsam, nunmehr die Europäische Koalition verlassen zu wollen, im Herbst also alleine anzutreten. Zwar suche man, so heißt es aus der Parteizentrale, nach neuen Verbündeten, um sicher in das Parlament einzuziehen, doch werde das Bündnis mit der großstädtischen Koalition aufgegeben, weil der Linksschwenk dort zu heftig gewesen sei. Tatsächlich wird es im Herbst in den ländlichen Räumen auch darum gehen, ob gegen den sich dort abzeichnenden nationalkonservativen Siegeszug überhaupt noch ein wirksames Kraut gewachsen ist. Würden die moderaten Agrarier in den Dörfern östlich und westlich der Weichsel vollkommen unter die Räder kommen, wäre das Rennen für Warschau entschieden.
Und die Europäische Koalition? Erst Ende des Monats wird sich abzeichnen, was von dem breiten politischen Oppositionsbündnis bleiben wird. Das Spektrum reicht nach dem Auszug der Agrarier immer noch von den Konservativen über die Wirtschaftsliberalen bis hin zu linksliberalen, frauenrechtlerischen Positionen. Die zusammenhaltende Klammer ist die Gegnerschaft zur Kaczyński-Politik, doch schätzten selbst gutmeinende Beobachter nach dem jüngsten Wahlgang ein, dass das für den Herbst nicht mehr ausreichen dürfte, um die nationalkonservative Regierung abzulösen. Da das Rennen in den Großstädten und in den ländlichen Räumen bereits entschieden zu sein scheint, bleiben die wahltechnisch schwierigen Regionen dazwischen – die kleinen und mittleren Städte – wohl von ausschlaggebender Bedeutung. Wie zuletzt geht es auch dann wieder um die Wahl zwischen einem im Grundsatz europäischen Polen oder um ein sich vor „Europa“ gleichermaßen fürchtendes wie schützendes abstrus gewordenes Polentum. Und das beste Argument der Kaczyński-Partei, dass es auch mit dem sich verteidigenden Polentum gut vorangehe, ist der zynische Verweis auf das anhaltend hohe Wirtschaftswachstum, das in diesem Jahr an die fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts herankommen wird.
Schlagwörter: Europäische Koalition, Europawahlen, Jan Opal, Parlamentswahlen, Polen