22. Jahrgang | Nummer 12 | 10. Juni 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Gedenkpreis, eine musikalische Klassiker-Paraphrase für Jungschauspieler, eine Berlin-Berlin-Familiengeschichte, eine Schmerz- und Schreckens-Performance …

***

7.500 Euro Preisgeld macht die Berliner Morgenpost alljährlich seit 1992 im Gedenken an ihren 1990 verstorbenen Großkritiker Friedrich Luft locker (im einstigen US-Sender Rias „Die Stimme der Kritik“; siehe Querbeet vom 19. November 2018). Ein schöner Luxus, ein respektables Extra, das man sich trotz notorisch klammer Kasse leistet. Und eine Würdigung der Leistungsfähigkeit des Hauptstadt-Theaterbetriebs. Auch wenn einem da nicht alles gefällt, es gibt doch immer wieder Herausragendes.

*

Beispielsweise in der Berliner Volksbühne die fantastisch verspielte, dann wieder parodistisch bis ins Groteske oder ins höhere Blödeln getriebene Adaption der Tragikomödie von Anton Tschechow „Drei Schwestern“ durch den Autor Bonn Park, der auch Regie führt und den halb-neuen, gewitzt das Weltumspannende der berühmten Klassiker-Vorlage umschreibenden Titel erfand: „Drei Milliarden Schwestern“.
Es ist eine todernste Situation, die Bonn Park da sarkastisch erfand: Ein alles Leben bedrohender Komet rast auf die Erde zu. Doch die drei Milliarden Schwestern tun das, was die drei Geschwister bei Tschechow auch tun: gelangweilt Tee trinken, herum trällern, sich unglücklich verlieben und gegenseitig auf den Keks gehen. Die Sache mit dem außerirdischen Objekt ist eine verrückte Setzung, die auf Michael Bays Weltuntergangsfilm „Armageddon“ anspielt – und auch sonst gibt es jede Menge kunst- und kulturgeschichtliche Querverweise. Wer sie nicht erkennt, dem bleibt dennoch diese artifiziell hochgestochene Tschechow-Paraphrase (bildmächtige Ausstattung: Leonie Falke, Laura Kirst) aufs fatale menschliche Nichtstun angesichts lauernder Gefahren gut verständlich. Dazu die lustvoll eklektizistische, effektsicher zwischen Zwölfton und Pop mäandernde Livemusik des Jugend-Sinfonieorchesters Berlin am Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium (Leitung: Knut Andreas; Kompositionen: Ben Roessler). Das genreübergreifende Ganze ist, so die Stimme der Jury, ein „experimentell verspieltes Gesamtkunstwerk“; man könnte auch sagen eine Art große Oper, raffinierte Show, ulkiges Musical.
Der inzwischen mehrfach ausgezeichnete Dramatiker und Regisseur Bonn Park ist quasi ein Eigengewächs der Volksbühne. Er stammt aus dem Theaterjugendclub P14 dieses Hauses, seit 1993 Spielwiese und Trainingslager im Wut-Herz-Schmerz-Geist der Castorf-Volkbühne. Und die großartigen jungen Leute von P14 sind es auch, die sich – neben Anne Tismer oder Popstar Dagobert („Ich bin zu jung“) – als drei Milliarden aufwändig maskierte und kostümierte Schwestern auf der großen Bühne zwischen Video-Einspielern tummeln. – Bis zum geschwisterlichen Schlusschor: „Das Ende der Welt, ich horch in mich hinein, was da passiert. Doch mir ist leider alles scheißegal. Ich hab Angst, Angst, Angst…“

*

Dass der diesjährige Friedrich-Luft-Preis zweigeteilt ist, hat mit einer besonderen Würdigung der Berliner Jugendtheaterszene zu tun. Der andere Preisträger ist das von Wolfgang Stüßel geleitete, von ihm 1987 in West-Berlin mit Kollegen gegründete Theater Strahl mit der Produktion „#BerlinBerlin“, einem – sagen wir – Berlinical, das vom Leben junger Menschen erzählt in der geteilten wie wiedervereinten Stadt. Dabei entsteht nichts weniger als das treffliche Bild einer vom Umbruch geprägten Epoche (siehe Querbeet vom 4. Juni 2018).

***

Gegenwart, Zeitgenössisches, lebende Autoren – Oliver Reese, Chef des Berliner Ensembles, wird nicht müde, diesen Dreier bei jeder Gelegenheit zu beschwören. Und er hat Recht! Jede Kunst, auch die des Theaters, sollte intensiv mit unserer Zeit zu tun haben. Deshalb möglichst viele neue und gute Stücke lebender Autoren in den Spielplan! Ist aber offensichtlich nicht so einfach. Zwar schreiben viele vieles, doch eher selten kommen dabei aufregende Geschichten zustande, gibt’s saftiges dramatisches Futter für die Bühne.
Also geizte Reese nicht mit Geld und etablierte löblicherweise – schon bei Amtsantritt vor drei Jahren – ein Autorenprogramm. Noch dazu engagierte er den Berliner Dramatiker und Romancier Moritz Rinke für die Jagd nach tollen neuen Stücken und ausbaufähigen Talenten; auch im Ausland. Erstaunlicherweise jedoch war von ihm nicht viel zu hören. Und plötzlich verschwand er klammheimlich von der BE-Bildfläche; wir wissen nicht warum, der Mantel des Schweigens ist dick. Dennoch, man hält löblich weiter fest an besagtem Programm. Doch die nicht sonderlich üppige Ernte bleibt bislang durchwachsen. ‑Ein greller Lichtblick allerdings: Das Migrantenstück „Amir“, ein im Kern krasses Familiendrama; darüber hinaus natürlich politisch höchst brisant. Gesellschaftlich also absolut relevant.
Der im Schreiben nicht unerfahrene Autor und Dramatiker Mario Salazar, Jahrgang 1980, hat sich in der Neuköllner muslimischen Parallelgesellschaft umgeschaut. Eine Palästinenser-Familie; die Eltern kamen/flüchteten Ende der 1980er Jahre aus einem Lager im Libanon via DDR nach West-Berlin; ihre vier Kinder, drei Jungen, ein Mädchen, sind in Berlin geboren und aufgewachsen. Ihr Status: geduldete Staatenlose; man kann sie nicht abschieben, doch den deutschen Pass sollen sie auch nicht bekommen. Immerzu bloß temporäre und wieder verlängerte Duldung. Die halb oder beinahe erwachsenen Kinder sind zerrissen zwischen gelegentlich sentimentaler Anpassung (falls liebevoll ein Herz pocht) oder störrischen Anpassungsversuchen sowie – und das vor allem – energischer, teils absoluter, auch feindseliger Abschottung. Sie sehen schwarz für ihre Zukunft, tauchen ab in (von Clans dominierte) kriminelle Milieus – Salazar breitet das drastisch und detailreich aus mit gelegentlich pathetischen Einschlägen. Also blutige Szenen, brutaler Terror, Gewaltexzesse, Sex, eine Schwangerschaft, Drogen, Gerichtsverurteilungen, Knast – das ganze Elend, das ganze schlimme Programm. Sein Stück ein ätzender Mix aus tragischen Konflikten, naturalistischer Milieubebilderung, Sozialstudie, Thriller.
Die Regisseurin Nicole Oder wollte das so nicht inszenieren. Vermutlich war es ihr ‑ einschließlich der sentimentalen wie pathetischen Momente – zu „schmonzettig“. Oder auch: zu fatalistisch. Deshalb kürzte sie radikal den Text (das Original wurde zur Premiere verteilt). Übrig blieb ein 90-Minuten-Konzentrat aus Verzweiflung, Verbitterung, Zynismus, Ab- und Ausgrenzung, Demütigung, Ignoranz, Allmacht-Wahn. Die neue Ansage: „AMIR. Nach Motiven des Dramas von Mario Salazar. Bearbeitung von Nicole Oder und Ensemble“.
Ein schwerer Konflikt zwischen Autor, Regisseurin, Intendanz – kein Ruhmesblatt der Autorenförderung. Einerseits. Anderseits ist Nicole Oders Paraphrase auf Salazar-Motive ein Wurf mitten ins Schwarze.
Also: Das breitgefächerte Salazar-Drama fällt aus. Stattdessen rast ein kompaktes Wut-Stück. Scharfe Blicke blitzen in die entsetzlichen Abgründe einer von Machtfantasien geprägten Macho-Parallelgesellschaft sowie auf problematische, teils geradezu absurde Aspekte unserer Migrationspolitik. Deutlich wird, wie beängstigend tief die Gräben längst sind zwischen Minderheit und Mehrheit.
Schauspielerisch strotzt dieser Abend vor Intensität der Gefühle und Kraft der Körper, zu der demonstrativ die Kraftmeierei in der Muckibude gehört (Burak Yigit als Amir, dazu Tamer Arslan, Elwin Chalabianlou, Nora Quest). Trotzdem kommen immer wieder Momente des Innehaltens, der tieftraurigen Stille. Ein Wahnsinn mit raffiniertem Soundtrack (Heiko Schnurpel) auf leerem Bühnenboden mit einer immerzu kreisenden Riesenwand. Die mächtige Vergeblichkeitsmauer, an der sich alle wund und kaputt stoßen (Szenen-Sinnbild: Franziska Bornkamm). Eine Schmerz- und Schreckens-Performance. Auch wenn dabei der Autor – leider!? – auf der Strecke bleiben musste. Man sollte ihm eine zweite Chance geben andernorts.