21. Jahrgang | Nummer 12 | 4. Juni 2018

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Eine Rutsche in die Hölle sowie Lebensläufe hüben-drüben im Berlin-Berlin…

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Der schmerzfreieste Punkt in diesem Schmerzensstück ist ganz unten. Dort, am dunklen Tiefstpunkt ihres Daseinselends, dort hat Blanche Dubois (Cordelia Wege) in ihrem verzweifelten Kampf um Liebesglück und Anerkennung für einen Moment die einigermaßen bequeme Pause für ihre totale Erschöpfung. Dennoch versucht sie, sogar auf allen Vieren wie ein waidwundes Tier, das nach Luft schnappt, immer wieder wimmernd, keuchend, schreiend hoch und nach oben zu kommen ans Licht und ins Schöne. Es ist ihre letzte, gierige, vergebliche, im Wahnsinn endende Lebensanstrengung. Doch immer wieder rutscht dieser gefallene Engel im weißen Flatterkleid ab, stürzt zurück ins Enge, luftabschnürend Dunkeltiefe. – Weil: Für Tennessee Williams Drama „Endstation Sehnsucht“, das im französischen Viertel New Orleans’ spielt und 1947 in New York uraufgeführt wurde, baute Olaf Altmann einen kaum mannshohen Schacht, der, geschnitten in eine rostige Wand (als Bodensatz aller öden menschlichen Existenz), in gefährlicher, schwindelerregender Schräge von oben rechts abfällt bis etwa ein Drittel Bühnenhöhe. Er hängt sozusagen in der Luft – schwebend wie ein Albtraum.
Was für ein Sinnbild für diese grandiose Fallstudie und darüber hinaus; verzichtend auf jede pittoreske Dekoration eines Milieus der sozial Abgehängten, moralisch Erniedrigten, seelisch Verrohten auf der Endstation. Es ist der versiffte, letztlich ausweglose Ort der Zuflucht von Blanche (Geld weg, Job weg, Männer weg und obendrein straffällig geworden). Ist der grausige Unort, die Behausung für ihre schwangere Schwester Stella (Sina Martens, eine elende Mischung aus Unterwürfigkeit, Aufmotzen, fader Empathie für Blanche) sowie für deren gewalttätigen Ehemann Stanley (Andreas Döhler), ein vom Testosteron gesteuerter, von schmerzlicher Erniedrigung kaputter polnischer Einwanderer. Ein mächtiger Haufen Elend, dem Döhler durch sarkastische Coolness eine böse, trotzige, geradezu unheimliche Souveränität gibt.
Die brutalen, zynischen, grotesken oder larmoyanten Redeschlachten dieses extrem neurotischen Dreiers (nebst gleichsam desolaten Figuren aus der Nachbarschaft: unter anderem Peter Moltzen als fieses Muttersöhnchen, das um Blanche buhlt und Kathrin Wehlisch als schrille Hausfreundin Eunice), diese schillernde, vom Autor wie fürs TV von heute wirkungsmächtig gepinselte Unterschichten-Soap interessieren Regisseur Michael Thalheimer nicht. Er hält es mit Blanche, auf die seine Inszenierung fokussiert ist. Und Blanche, längst abgetaucht in ihre heile Traumwelt, schreit denn gleich anfangs: „Ich will keinen Realismus!“ – Die Regie will ihn auch nicht. Sie taucht das Melodram in ein Säurebad der abstrahierenden Reduktion. Übrig bleibt – kongenial dem Bühnenbild – das Existenzielle. Die reine lebensfeindliche Hölle in der schon zur Urzeit die Menschheit rutschte, um dort auf ewig festzukleben.
Das könnte langweilig werden, weil die verfahrene Lage von Anfang an klar ist. Wird es aber nicht! Vielmehr entfesseln die Darsteller in diesem szenisch-inhaltlichen Konzentrat eine schier überwältigende Wucht sowie – tolles Paradoxon – Klarheit im wuchernd Schizophrenen. Freilich, psychologisches Fummeln, schweißtreibende, schrille, schluchzende, eklige Suhlerei im Elend, derartiges passt hier nicht. Dennoch kommt es – großes Können! – im energetisch aufgeladenen, im ätzend hohen Dauerton des Irrsinns, in dieser angespannten Künstlichkeit (oder gerade dadurch), auf wundersame Weise zu erschütternd menschlichen (zugleich allgemein menschlichen) Momenten: todunglücklich, schmerzensreich, gallig, wahnhaft, weltverloren. Alles wie im Fieber, Hauen und Stechen wie im Rausch. Und doch stocknüchtern sezierte Ausweglosigkeit. Da wird den Figuren eine verstörende Ambivalenz abgerungen – zugleich folgen sie, eingewoben von Bert Wredes unheimlichem Soundtrack, ihrem eingebrannten Fatalismus. Grandios.
Das letzte Wort hat Stanley. Kerlig kühl, hilflos tröstend, gnädig verlogen sagt er zur irre gewordenen Blanche: „Alles gut. Ist doch alles gut…“ Dabei ging doch alles, alles längst kaputt in diesen einhundert packenden Theaterminuten. – Aber mit Cordelia Wege, der mit sicherer Hand frisch ans BE verpflichteten Schauspielerin, hat das Hauptstadttheater einen neuen Star. So gesehen: Alles gut!

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Och! Schon wieder so eine Mauergeschichte, jugendgemäß mit Musik. Da hatten wir doch schon das Udo-Lindenberg-Musical mit seinem „Mädchen aus Ostberlin“: Klasse Show mit viel Gefühl, Charme, Humor; kitschfrei und den todernsten Hintergrund nicht vergessend.
Stimmt! Doch jetzt toppt das auch hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit hauptstädtische Off-Kollektiv Theater Strahl mit „#BerlinBerlin“ das vielfach umspielte Thema vom Dasein in der geteilten Stadt. Um es gleich zu sagen: Das faszinierende Berlin-Stück für Jugendliche (und neugierige Eltern/Großeltern) hat mit seiner fein dosierten Mischung aus Ernst, Komik und jeweils zeitbezüglichem Soundtrack sowie obendrein der besessenen, dabei präzisen Spiel-Lust der nur sechs hin- und mitreißenden Schauspieler in jeweils mehreren Rollen das Zeug zum absoluten Kult (das grandiose Ensemble: Beate Fischer, Josephine Lange, Oliver Moritz, Sarah Schulze-Tenberge, Jusus Verdenhalven, Raphael Zari). Diese tolle Truppe macht Berlin- und Deutschlandgeschichte überwältigend lebendig in einer spannenden, hochdramatischen Familienstory diesseits und jenseits der Mauer und darüber hinaus nach dem Fall dieses martialischen Polit-Bauwerks aus Beton, Stacheldraht, Todesstreifen.
Ein Ostberliner Krankenhaus am Sonntag, 13. August 1961: Dagmar mit ihrem just geborenen Baby Ingo; doch ihr Mann Klaus, der sehnsüchtig erwartete Papa, der kommt nicht. Der steckt fest in West-Berlin, wo er arbeitet. Denn die DDR hat über Nacht die Sektorengrenze dicht gemacht. Klaus, dem das insgeheim ganz gut passt, er hasst die Kommunisten, bleibt im Westen, gründet dort eine neue Familie, bekommt zwei Töchter – alles paletti. Ingo wächst derweil vaterlos im Osten auf; Onkel und Oma kümmern sich rührend und unterstützen Dagmar, die alleinerziehende Mutter. Erst bei der Beerdigung der Großmutter wenige Jahre vor dem Mauerfall erfährt Ingo, dass sein Vater lebt und dass er zwei Halbschwestern hat…
Was für eine in jenen Zeiten gar nicht so seltene Geschichte, die da Sina Ahlers, Uta Bierbaum, Günter Jankowiak und Jörg Steinberg mit Herz und Schmerz, Witz und Tempo erzählen – ein dramaturgisches Meisterstück von Holger Kuhla. Immerhin gelingt es nicht oft, dass ein Autorenkollektiv – hier mit jeweils eigenen West- und Osterfahrungen – ein derart stringentes Script zusammenbringt, das Fiktives und Authentisches in spannungsgeladener Weise vereint. Der besonders aufregende Trick: Die parallele, genaue, von ideologischen Vorurteilen freie Illumination der beiden ziemlich gegensätzlichen Lebenswelten (etwa Kindergarten – Kinderladen) in ihrem Alltag.
Freilich wird die Sache erst rund mit einer adäquaten, Drama, Historical und Show in eins verwebenden Regie. Jörg Steinberg inszeniert geradezu virtuos und mit leichter Hand für präzise Personenführung durch die Fülle der Szenen, deren Schauplätze innerhalb dreier Jahrzehnte imaginiert werden allein durch den fantasiereichen, fliegenden Umbau von Mauersegmenten – ob Sitzgruppe, Grabstein oder Tribüne beim Springsteen-Konzert 1988 in Weißensee (Bühne: Fred Pommerehn; Kostüme: Stephanie Dorn). Und Wolfgang Böhmers Live-Musik kommentiert krachend, zärtlich oder traurig die jeweilige Stimmungslage.
Wie von selbst, ohne Zeigefingerei, ohne pädagogischen Eifer, drängen sich da gewisse Fragen auf: Woher kommen wir? Wer sind wir? Was wissen wir von denen drüben und hier? Wie greift „das System“ ein in existenzielle, auch immergrüne Familien- und Jugendprobleme? Aus welchem Material sind die Mauern, die uns heute noch trennen? Wirkt etwa der alte Beton jetzt noch nach? – Der Regisseur fasst vieles zusammen in einem Spruch: „Heimat ist da, wo Erinnerung sich auskennt.“