21. Jahrgang | Nummer 24 | 19. November 2018

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal die Welt-Firma Lottchen & Weillchen, eine Kreisch-Parade der Deppen und Deppinnen und prima Berliner Luft…

***

„Lenya agiert mit hinreißender Bosheit; sie ist das albtraumhafte Gegenteil all dessen, was man sich unter tröstlich, feminin, mitmenschlich und beschützend vorstellt“, schrieb Newsweek 1964 über die KGB-Agentin Rosa Klebb, die Lotte Lenya, da war sie weit über sechzig, in dem James-Bond-Thriller „Liebesgrüße aus Moskau“ spielte. Freilich, so wie Rosa war Lotte nicht privat. Zwar keine Schönheit trotz roter Haare, aber magisch auf Männer wirkend: das Herbe, Radikale, auch unverschämt Machtbewusste, gepaart mit Grips, Eloquenz, Sexappeal bis hin zur Lasterhaftigkeit. Das zog die Kerle an. Sonderlich solche, die mit Kunst zu tun hatten. Und das wiederum hatte, nicht ganz nebenbei, mit ihrer sagenhaften Stimme zu tun. Die produzierte keinen Schöngesang, sondern scharf unter die Haut gehende Ausdruckskraft – womit sie haargenau den Nerv ihrer Zeit traf.
Der sagenhafte Aufstieg einer Autodidaktin, aus ärmlichen Wiener Verhältnissen stammend und ausgebüxt ins Prominenten-Stadel erst von Zürich, dann von der Reichshauptstadt, die Weltkarriere der Lotte Lenya begann dort – tja! – vor allem mit dem richtigen Mann an der Seite: Mit Kurt Weill aus Dessau; dicklich, Brille, Glatze, zwei Jahre jünger, Schüler von Humperdinck. In Weills Songspiel „Mahagonny“ von 1927 fiel Lotte erstmals schwergewichtig in die Feuilleton-Schlagzeilen. Derweil Kurt, der – obgleich aus Humperdincks konservativ-spätromantischer Werkstatt kommend – sich als Avantgardist verstand, entsprechend neue Wege suchte zum Publikum: Indem er das probat Massenwirksame (das berauschend und süß Klingende) in eins zu zwingen trachtete mit dem Avancierten (dem Schmissigen, Jazzigen, ironisch Aufreizenden). So stehen beide, Lotte & Kurt, an der Schwelle zum Ruhm.
Ein Jahr später dann der Glücksknaller: Für Lottchen die Rolle der Hure Jenny in der „Dreigroschenoper“ (1928 Brecht/Weill) – eine Explosion. Schließlich ein Monument der Theatergeschichte; doch da hassten Lotte und Kurt den Kollegen Brecht bereits als sturen Linksideologen und durchtriebenen Tantiemen-Räuber.
„Surabaya-Johnny – man hört ihr zu wie Caruso“, schwärmt Weill. 1935 ist Schluss mit Derartigem in Germanien. Also raus aus Deutschland. Emigration mit Ehemann „Weillchen“ in die USA. Dann Scheidung, andere Promis im Lotte-Bett und Spielcasino. Dann Wiederheirat mit W. Nach dessen Tod 1950 noch zwei weitere skandalumwölkte Ehen. 1966, inzwischen eingebürgert, gelang Lotte unter Harold Price in „Cabaret“ als Fräulein Schneider ein Sensationserfolg – eine der Bond-Oma Rosa Klebb entgegen gesetzte Rolle. Mutiges Casting. Kurz vor ihrem Tod 1981 in New York wurde Lenya, eine geradezu militante Pflegerin des Weillschen Werks, zusammen mit Tennessee Williams und Elmer Rice in die „Theatre Hall of Fame“ aufgenommen.
Das romaneske Leben dieser Ikone der klassischen Moderne (am 18. Oktober gedachten wir ihres 120. Geburtstags) wird jetzt in einer Lotte-Lenya-Hitparade nachgezeichnet und gesungen. Abwechselnd in Wien (Theater in der Josefstadt) und in Berlin (Renaissance Theater). Mit der wunderbaren, rotzigen oder auch verschlagen süß säuselnden gebürtigen Wienerin Sona MacDonald. An ihrer Seite der Berliner Schlacks, mithin der überhaupt nicht dickliche Tonio Arngo als Weill sowie – im Schnelldurchgang – als die ihm nachfolgenden, eher flauen Ehemänner: Ein bemerkenswert wandlungsfähiges Spieltalent mit deutlich Bums in der Kehle.
Regisseur Torsten Fischer und Autor Herbert Schäfer haben gemeinsam diverse biografische Stationen mit ihren Verzweiflungsmomenten und tragischen Punkten, aber auch ihrem Glanz und Gloria in pointierte Spielszenen gegossen, die dann Fischer, ein im einschlägigen Show-Betrieb erfahrener Regisseur, geschickt mit Lenya-Weill-Evergreens verknüpft und dabei immer wieder suggestiv blendende, doch auch berührend innige Sinnbilder erfindet.
Was für ein Lebenslauf, was für ein Weib (die lebensgierige, zynische Lotte)! Und was für ein Kerl (der romantische Ironiker Kurt)! Was für Kreativität, Courage, Schmerz und wilde, trotzige Daseinslust. Was für eine Hommage auf beide. – Applaus für die Künstler, die sich mutig, aber auch respektvoll diesen beiden ganz Großen anverwandelten, um uns eine beeindruckende Ahnung zu schenken von unvergleichlichen Originalen.

***

„Bitte, Herr Luft…“ sagte der Rias-Radiosprecher, und dann legte sie schier atemlos los, „die Stimme der Kritik“. Sonntag für Sonntag am späten Vormittag. Eine präzise, pointierte Plauderei über das Bühnengeschehen im Berlin der Sektoren bis hin zu dem des Mauerfalls. Stets im schnellen scharfen Tempo, aber immer eine Plauderei, verständlich für jedermann. Trotz der spektakulären Häufung von Adjektiven, der atemberaubenden rhythmischen Analogien – sein Telegrammstil war der Witz dieses „besoldeten Rampenschreibers“: anschaulich, aufklärerisch, offensiv und klar machend, gerichtet gegen die „Pest der Langeweile“ auf den Bühnen wie in den Redaktionsstuben. Sein Credo: Unbestechlich urteilen nach persönlichen Maßstäben und mit Liebe zur Sache.
„Luft ist mein Name. Friedrich Luft. Ich bin 1,86 groß, dunkelblond, wiege 122 Pfund, habe Deutsch, Englisch, Geschichte und Kunst studiert, bin geboren im Jahre 1911, bin theaterbesessen und kinofreudig … Wozu bin ich da? Ich soll mich für Sie plagen.“ So sein Stenogramm. Doch der sportlich hagere Herr aus Berlin-Schöneberg, wo er auch starb am Heiligabend 1990, war nicht nur Berlins Kritikerpapst (als es noch solche gab), sondern zugleich ein begnadeter Feuilletonist. Eine von Wilfried F. Schoeller besorgte Auswahl des Besten aus der Fülle des Guten aus fünf Jahrzehnten liegt jetzt vor im 405. Band der Anderen Bibliothek unter dem sinnigen Titel „Über die Berliner Luft“ (432 Seiten, 42 Euro), über die speziell – neben anderweitigen Berliner oder allgemeinmenschlichen Spezialitäten – Luft gelegentlich sinnierte.

***

Zweieinhalb Stunden unentwegt keuchendes Zappeln, Grimassieren, Hin- und Herstürzen, Arschwackeln. Das perfekt dressierte Hochleistungsensemble der Schaubühne als lächerliche Deppen- und Deppinnen-Truppe im Hysterie-Modus. Doch geht so eine federleicht konstruierte Verwechslungskomödie, eine Gesellschaftsfarce mit ihrem Gespinst aus Verlogenheit, gutbürgerlichem Feingetue und selbstsüchtiger Rohheit?
Das alles zusammen nämlich ist Georges Feydeaus Vaudeville-Show „Champignol wider Willen“ von 1892. Es geht um eine außereheliche Affaire im Hause Champignol, die noch nicht einmal ordentlich zum „Vollzug“ kommt, doch durch eine Ballung diverser Zufälle zu den vielfältigsten Verstellungen und Verwechslungen führt – und noch dazu bis hin ins für Verwitzung so dankbare Metier des Militärs; weshalb auch der gesamte Bühnenkasten vom Bühnenbildner Herbert Fritsch mit Camouflagemuster-Stoff ausgeschlagen ist.
Die verrückten Einzelheiten der Handlung, aber auch jede Art von Figurenzeichnung interessieren den Regisseur Herbert Fritsch überhaupt nicht. Er stellt vielmehr sein hinlänglich probiertes Repertoire an exzessiver Körper- und Gesichtsartistik aus.
Doch nach geraumer Zeit fragt man sich in der Revue gängiger Fritsch-Eskapaden und Typen-Klischees, ob denn Boulevard, Vaudeville, Schwank, Klamotte, Komödie durchweg derart platt ablaufen muss. Denn das hat man doch schon ganz anders erlebt: Mit Ab- und Hintergründigkeit vollgestopft, mit subversiver Stimmung, mit der Komik von Verzweifelten, dem untröstlichen Elend der Geschlagenen, der blinden oder hellen Wut der Zukurzgekommenen. Es genügt eben nicht, sich allein auf ein freilich opulentes Repertoire an Techniken der Hanswurstiade zu verlassen. Komödie ist – Binsenweisheit – sehr viel mehr als Dauerkreischalarm.