von Victoria Kropp
Japan ist seit dem Zweiten Weltkrieg bekannt für seinen Pazifismus. Pazifistisch eingestellt ist ein Großteil der Bevölkerung und kriegsablehnende Elemente weist die japanische Verfassung seit Ende des Zweiten Weltkrieges auf. So lautet die weitverbreitete Annahme – Betonung auf Annahme. Tatsächlich nehmen militärische Handlungen und Reden seit geraumer Zeit zu. Dass sich die militärische Rhetorik verschärft, ist nicht neu, neu hingegen ist, dass Premierminister Shinzo Abe das Jahr 2020 zu einem magischen Jahr für die Militarisierung Japans gemacht hat.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab die alliierte Besatzungsregierung unter US-amerikanischer Federführung Japan eine neue Verfassung. Ziel sollte eine Eindämmung militärischer Aggressionen sein, denn das Land hat im Zweiten Weltkrieg eine aggressive Expansionspolitik betrieben und Kriegsverbrechen (unter anderem Massentötungen und Erprobung biologischer/chemischer Waffen an lebenden Menschen) begangen. Bei der Verfassung ist in dem Kontext Artikel 9 hervorzuheben, in dem die Verbote militärischer Aktivitäten, eines Aufbaus von kriegsfähigen Streitkräften und Kriegsführung stehen. Allerdings steht das nur auf dem Papier so. In der Praxis haben sich längst mehrere Auslegungen etabliert.
Im Wortlaut heißt es in besagtem Artikel 9:
„(1) In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten.
(2) Um das Ziel des vorhergehenden Absatzes zu erreichen, werden keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel unterhalten. Ein Recht des Staates zur Kriegsführung wird nicht anerkannt.“
Die erste Auslegung betrifft die Selbstverteidigungsstreitkräfte (SDF): Schwarz auf Weiß steht es nicht, dass sie aufgebaut werden können. Allerdings lautet die Interpretation, dass Selbstverteidigung von den Verboten ausgenommen ist. Somit können Soldatinnen und Soldaten ausgebildet und Waffen angeschafft werden – solange sie nicht als Kriegsmittel dienen. Aber was sind Waffen mit Kriegspotenzial und was sind Waffen ohne Kriegspotenzial? Welche Waffe dient lediglich dem Zweck der Selbstverteidigung und kann nicht im Krieg eingesetzt werden?
Eine weitere Auslegung betrifft die Androhung beziehungsweise den Einsatz von Gewalt als Mittel, um internationale Streitigkeiten beizulegen. Längst sind die SDF auch im Ausland aktiv. Offiziell unter dem Deckmantel der „humanitären Hilfe“. Das heißt, sie nehmen nicht an Kriegshandlungen teil, unterstützen aber die Infrastruktur vor Ort. Der Kabinettsbeschluss vom 1. Juli 2014 erweiterte dann die Aufgaben der SDF: Anstatt deren Einsatz nur als Reaktion auf einen bewaffneten Angriff gegen Japan zu definieren, sind die Streitkräfte nun auch zur „Verteidigung Japans“ im Ausland verpflichtet, wenn das „Überleben Japans“ bedroht ist. Dazu reicht es aus, wenn ein Angriff gegen ein Land mit „engen Beziehungen“ zu Japan erfolgt, dessen Folgen das „Überleben Japans“ bedrohen können – sofern keine anderen Mittel zur Verteidigung zur Verfügung stehen (Artikel 3, Absatz 3). Welcher Fall das „Überleben Japans“ im Ausland bedroht, wie die Definition von „engen Beziehungen“ mit Japan aussieht und welche „anderen Mittel zur Verteidigung“ ausgeschöpft sein müssen, wird nicht erklärt. Des Weiteren behält sich Japan vor, dass eine Teilnahme an internationalen Missionen unter dem Slogan „proaktiver Beitrag zum Frieden“ möglich ist (Artikel 2, Absatz B). Der Kabinettsbeschluss nimmt dabei auch Bezug auf Artikel 9 und betont, mit diesem in Einklang zu stehen. Zwar wird damit die Teilnahme an Kampfhandlungen weiterhin ausgeschlossen, allerdings ist auf dieser Grundlage deren Legalisierung auch nur noch ein paar Schritte entfernt.
Mit diesen Interpretationen gilt der Auslegungsspielraum für Neuinterpretationen als ausgeschöpft. Der nächste Schritt wäre eine Verfassungsänderung.
Ein Entwurf wurde 2012 von der Liberaldemokratischen Partei (LDP) bereits vorgelegt. Für die Militarisierung ist zentral, dass Artikel 9 erweitert wird. Nach der Erweiterung ist der Premierminister der Oberbefehlshaber einer Nationalen Verteidigungsarmee – und nicht mehr von Selbstverteidigungsstreitkräften. In dem Entwurf ist diesmal auch niedergeschrieben, dass die Armee zur Selbstverteidigung eingesetzt wird. Zusätzlich kann die Armee, um Sicherheit und Frieden der internationalen Gemeinschaft zu gewährleisten, an internationalen Missionen teilnehmen. Des Weiteren kann sie eingesetzt werden, um die öffentliche Ordnung zu erhalten und um das Leben bzw. die Freiheit der Bürger zu beschützen. Diese genannten Erweiterungen sind durch die bisherigen Auslegungen schon gängige Praxis. Neu ist, dass sie offiziell in die Verfassung mit aufgenommen werden. Auf dieser Basis wären dann neue Auslegungen möglich, die bisher nicht als gangbar erscheinen. Denn eine Interpretation der Interpretation eines Verfassungsartikels ist schwer durchzusetzen – eine Interpretation eines Verfassungsartikels mit der Interpretation hingegen schon. Ferner steht in der oben zitierten derzeitigen Fassung, dass Japan „für alle Zeit“ auf Krieg und Gewalt verzichtet. Im Entwurf ist an der Stelle nur noch die Rede von „wird nicht angewendet“.
Zur Initiierung einer Verfassungsänderung braucht es die Unterstützung von mindestens einem Viertel der Abgeordneten im Unter- und Oberhaus des Parlaments. Anschließend muss in beiden Häusern mit einer Zweidrittelmehrheit dafür gestimmt werden. Abschließend muss die Änderung in einem Referendum dem Volk vorgelegt werden, wo eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreicht.
Im Unter- und Oberhaus gilt die Zweidrittelmehrheit als gesichert. Die nächsten Unterhauswahlen stehen 2021 an und für das Oberhaus im Juli 2019 und 2021. Bei den Unterhauswahlen werden alle Abgeordneten neu gewählt; Oberhauswahlen finden alle drei Jahre statt, bei denen jeweils die Hälfte neu gewählt wird.
Regelmäßig werden Umfragen von Nachrichtenverlagen durchgeführt, nach denen die Zahl der Ablehner einer Verfassungsänderung größer ist als die der Befürworter.
Premierminister Abe hat sich als Ziel gesetzt, die Verfassung bis 2020 zu ändern: „(Bis 2020) glaube ich, dass Japan seinen Status vollständig wiederhergestellt haben wird und einen großen Beitrag zu Frieden und Stabilität in der Region und der Welt geleistet hat“, somit könne Japan zu einer „ausgewogenen und stabilen Region“ beitragen. Und weiter: „Jetzt ist es an der Zeit, dass Japan einen großen Schritt auf dem Weg zu neuen Bemühungen um den Aufbau von Nationen macht.“
Angesichts der Ober- und Unterhauswahlen 2021 dürfte eher die Befürchtung, die Zweidrittelmehrheit zu verlieren, der Grund für das Beharren auf das Jahr sein. Zudem sind 2020 die Olympischen Spiele in Tokyo: „2020 ist das Jahr, in dem wir die Olympischen und Paralympischen Spiele in Tokio abhalten. Ich möchte, dass dieses Jahr eine bedeutende Wiedergeburt Japans darstellt.“ Damit möchte Abe auch eine Parallele zu den ersten Olympischen Spielen in Japan 1964 ziehen: Damals hatten die Spiele eine große Bedeutung für Japan, da sie als Zeichen gewertet wurden, dass Japan als friedliche und wirtschaftlich erfolgreiche Nation auf die globale Bühne zurückkehrt. Genauso wie die Olympischen Spiele 1964 als Neuanfang und Wiederaufstieg gelten, so soll es nach Abe auch mit den Spielen 2020 sein. Zugleich erhofft er sich mit dieser Rhetorik, mehr Befürworter einer Verfassungsänderung unter der Bevölkerung zu gewinnen. Anstatt aber einen kriegsfreien Neuanfang und den Niedergang militärischer Aktivitäten zu feiern, soll nun der Beginn einer vertieften Kriegslaufbahn gefeiert werden.
IMI-Analyse 2019/014. Auf die Wiedergabe der Quellenbelege, die im Original abrufbar sind, wurde verzichtet. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Informationsstelle Militarisierung (IMI).
Schlagwörter: Japan, Krieg, Militarisierung, Streitkräfte, Victoria Kropp