von Frank Ufen
Am 7. Dezember 2017 ging ein denkwürdiges Duell zwischen zwei Schachprogrammen zu Ende. Das Programm AlphaZero hatte gegen seinen Konkurrenten Stockfish 8 einhundert Partien ausgetragen, von denen es 28 gewonnen und keine einzige verloren hatte.
AlphaZero benötigte insgesamt nur vier Stunden, um sich das Schachspielen selbst beizubringen und sich auf das Duell vorzubereiten, indem es mehrere Partien gegen sich selbst spielte. Während Stockfish 8 in jeder Sekunde Millionen von Stellungen berechnen konnte, musste sich AlphaZero mit 80.000 begnügen, machte das aber mit einem künstlichen neuronalen Netzwerk wett, das nicht sämtliche jeweils möglichen Positionen durchspielt, sondern bloß die wahrscheinlichsten herausgreift und bewertet.
In den Augen des israelischen Historikers Yuval Noah Harari ist AlphaZero, weil Menschen ihm nichts beibringen mussten, zu Zügen imstande, die unkonventionell, kreativ oder sogar genial anmuten. Für Harari kündigt sich mit dem Algorithmus von AlphaZero nichts Geringeres als eine KI-Revolution an. Es gibt allerdings Schachexperten, die dieser Auffassung ablehnend gegenüber stehen und behaupten, dass AlphaZero in erster Linie deswegen überlegen gewonnen habe, weil die Regeln des Spiels Stockfish 8 von vornherein benachteiligt hätten.
Harari ist der Auffassung, dass der traditionelle Rassismus, der sich auf den biologischen Evolutionismus beruft, mittlerweile bloß noch eine untergeordnete Rolle spielt. An seine Stelle sei eine neue Ideologie gerückt, die die charakteristischen psychischen Dispositionen, kognitiven Fähigkeiten, Mentalitäten und Verhaltensgewohnheiten, bestimmter sozialer Gruppen auf deren Kultur zurückführt. In Hararis Augen unterlaufen diesem Kulturalismus zwar immer wieder Denkfehler, aber dafür würde er sich von dem Postulat leiten lassen, dass Kulturen leichter veränderbar seien als Erbanlagen.
Es gibt allerdings Sozialwissenschaftler, die dagegen einwenden, dass nicht der Rassismus schlechthin marode sei, sondern lediglich seine biologistische Variante. Heute würde ein kulturalistischer Rassismus dominieren, der Kulturen naturalisiert, insofern er sie als homogene, gegeneinander abgeschlossene und von den gesellschaftlichen Kräfte- und Machtverhältnisse und ihrem Wandel unabhängige Entitäten begreift. Wie der herkömmliche würde auch der modernisierte Rassismus dazu dienen, sozialen Gruppen den Zugang zu bestimmten Ressourcen zu versperren. Was erklärt, warum in den Vereinigten Staaten gegenwärtig die Wahrscheinlichkeit, dass ein Amerikaner mit dunkler Hautfarbe irgendwann hinter Gittern landet, bei eins zu drei liegt.
Der Homo sapiens – sagt Harari – ist das Lebewesen, dessen Macht darauf beruht, dass er Fiktionen erzeugt, die von seinen Artgenossen für Wahrheiten gehalten werden. Obwohl diese Fiktionen nur Fake News seien, würden sie es ermöglichen, große Menschenmassen zu organisieren und zwischen ihnen dauerhafte Kooperationsbeziehungen herzustellen.
Auch Juden, Christentum und Islam sind laut Harari nichts anderes als Fake News. So würde Gott den Theologen einerseits als ein absolut mysteriöses Wesen gelten, das für den menschlichen Geist unergründlich sein soll und das angeblich sämtliche Phänomene im Kosmos hervorruft, die die Naturwissenschaften nicht erklären können. Andererseits würden die Theologen den Anspruch erheben, genau zu wissen, was Gott denkt, empfindet und will und welche sexuellen Praktiken, Herrschaftsformen, Lebensstile, oder Speisen er schätzt und welche er verabscheut. An diese Fake News glauben laut Harari allerdings Millionen von Menschen. Wobei die gesamten Institutionen der Religionen wie Echokammern funktionieren würden und die Wirkung hätten, dass die Gläubigen in ihren Glaubensvorstellungen ständig bestätigt würden.
Lange galt es als ausgemacht, dass keine Maschine es mit Menschen aufnehmen kann, wenn es sich darum handelt, zu lernen, zu kommunizieren und die Gedanken, Emotionen und Stimmungen anderer zu erschließen. Doch nach Harari kommt die KI jetzt immer besser damit zurecht, die biochemischen Mechanismen zu analysieren, die den menschlichen Emotionen, Wünschen und Entscheidungen zugrunde liegen, und in nicht allzu ferner Zukunft könnten maschinell lernende Algorithmen das erheblich präziser und zuverlässiger bewerkstelligen als jeder Mensch.
Vielleicht, mutmaßt Harari, wird es schon bald Algorithmen geben, die, gestützt auf biometrische Daten, Songs spielen und komponieren können, die exakt auf den Persönlichkeitstyp, die emotionalen Zustände und Stimmungslagen der Musikkonsumenten zugeschnitten sind.
Nach Harari sind es solche Koppelungen von Informations- und Biotechnologie, die in den kommenden Jahrzehnten die Arbeitswelt und sämtliche anderen gesellschaftlichen Sphären tiefgreifend verändern werden.
Er befürchtet, dass sich Diktaturen neuer Art etablieren könnten, die sich in erster Linie auf Big-Data-Algorithmen stützen würden. Und dass sich die Reichsten in von Drohnen und Robotern überwachten Festungen zurückziehen werden und immer mehr Kapital in die Optimierung ihrer Körper und Gehirne investieren könnten. Dadurch könnte sich schließlich eine Kaste von Übermenschen oder sogar eine neue Spezies herausbilden.
Durch seine Bücher „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ und „Homo Deus“ ist Yuval Noah Harari zu einem Guru geworden, der ständig aufgefordert wird, zu allem und jedem seinen Kommentar abzugeben. Aus etlichen seiner früheren Stellungnahmen hat Harari sein neuestes Buch zusammengestückelt. Er behandelt eine ungeheure Zahl von Themen – von Kriegen, Terrorismus und Nationalismus angefangen bis hin zu veganer Ernährung, Willensfreiheit und Tod. Was dabei herausgekommen ist, ist teils anregend und aufschlussreich, teils vage oder banal, teils fragwürdig oder spekulativ. Ein durchwachsenes Buch, mit allerdings exzellenten religionskritischen Passagen.
Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, C.H. Beck, München 2018, 459 Seiten, 24,95 Euro.
Schlagwörter: Algorithmus, Frank Ufen, Künstliche Intelligenz, Rassismus, Religion, Yuval Noah Harari