22. Jahrgang | Nummer 10 | 13. Mai 2019

Europas gesundes Herz

von Jan Opal, Gniezno

Das Blau der EU-Fahne gehörte auf Polens Straßen und Plätzen von Anfang an zu den Protesten gegen die von Jarosław Kaczyński angeführte nationalkonservative Regierung. Als die Regierung außerdem daran ging, dieses Symbol in den Regierungsinstitutionen gegenüber der eigenen Nationalfahne deutlicher zurückzusetzten als bis dahin üblich, war die Rollenverteilung klar. Erst das unerwartete Ergebnis beim Brexit-Referendum in Großbritannien und Nordirland brachte plötzlich neue Bewegung ins Spiel, denn als erster fand Kaczyński zur Sprache zurück. Das Londoner Ergebnis beweise doch, so behauptete er damals kühn, dass nicht die innenpolitischen Gegner in Polen, die so demonstrativ ihre Verbundenheit mit der EU herausstellten, die Verteidiger des Gemeinschaftsgedanken seien, sondern sein auf dem strengen nationalen Kurs befindliches Regierungslager. Es gehe künftig um den zügigen Umbau der Gemeinschaft zurück zu einer weitaus lockeren Gemeinschaft von Vaterländern oder Nationalstaaten, abzukehren sei von dem in Paris und Berlin favorisierten Weg der rasch fortschreitenden Integration, die zum Auseinanderbrechen der EU führen werde.
Als Ende Dezember 2017 nach Entscheidung Kaczyńskis mit Mateusz Morawiecki ein neuer Chef ans Regierungsruder berufen wurde, kam auch wieder etwas mehr EU-Blau in die polnischen Regierungsstuben. Zu spüren war, dass das große Wahljahr 2019 seine Schatten vorauswarf. Da ein halbes Jahr vor der für Polens weitere Entwicklung so entscheidenden Parlamentswahl im Herbst die Wahlen zum Europäischen Parlament fällig sind, war den Wahlstrategen im Kaczyński-Lager frühzeitig bewusst, dass der vor allem in den großen Städten verwurzelten Opposition kein unnötiger Vorsprung gelassen werden dürfe, der dann bis Herbst gnadenlos ausgenutzt werden könnte. Tatsächlich wurde der Spieß nun umgedreht: Die wirtschaftliche Entwicklung beweise doch genügend, wo in Polen die eigentlichen „Europäer“ säßen – im Regierungslager. Während der zum Lager der Nationalkonservativen gehörende Staatspräsident Andrzej Duda vor geraumer Zeit noch öffentlich über eine imaginäre Gemeinschaft höhnte, an deren Spitze sich einige herausnehmen würden, den Stab über Polens Regierungspolitik zu brechen, hat er nun Kreide gefressen: Wer die Gefahr eines EU-Austritts an die Wand male, handele wider die nationalen Interessen!
Das breite, liberal geführte Oppositionsbündnis bezeichnet sich jetzt herausfordernd als die Europäische Koalition. Diese will nun beweisen, dass die Hoffnungen auf eine Abwahl der Nationalkonservativen im Herbst berechtigt sind. Das Kaczyński-Lager konterte entsprechend, indem schlitzohrig erklärt wurde, dann eben zu den EU-Wahlen entschieden als die polnische Koalition antreten zu wollen. Aus diesem Ansatz wurde der griffige Wahlslogan entwickelt, Polen als das Herz Europas herauszustellen. In diesem Herzen findet das ganze europapolitische Sammelsurium der Kaczyński-Leute aus den letzten Jahren seinen Platz – allerdings nun in der eigenwilligen Ausrichtung, dass an der Weichsel – nicht in Brüssel, Berlin oder Paris – der Takt vorgegeben werde.
Hier nehme man es mit den europäischen Werten noch ernst, wohingegen anderswo mit dem Feuer gespielt werde. Gemeint sind die christlichen Werte, die an der Wiege der Gemeinschaft die entscheidende Rolle gespielt hätten. Um die Gefahren auch recht eindrücklich zu illustrieren, werden nun seit Wochen immer wieder die Lesben und Schwulen als große Gefährdung des öffentlichen Friedens herausgestellt. Es geht darum, das eigene Lager noch einmal kräftig zu mobilisieren. Tatsächlich gibt es unsinnige Versuche der Nationalkonservativen, einzelne Wojewodschaften zu Gebieten zu erklären, in denen weder die in Polens Kirchen vielgescholtene Genderideologie noch die Regenbogenfahne ein Zuhause hätten. Und wenige Tage vor dem Wahltag wurde medienwirksam eine Künstlerin am frühen Morgen in der eigenen Wohnung festgenommen, weil die sich erlaubt hatte, im öffentlichen Raum wichtige Symbole des katholischen Glaubens in den Regenbogenfahnen darzustellen. Exekutiert wurde ein Gesetz, wonach die Verletzung religiöser Gefühle strengstens verboten sei. Künstlerische Freiheit schert da wenig, es geht alleine um den billigen Beweis, dass der Schutz der traditionellen oder christlichen Familie im Regierungslager die höchste Priorität habe.
Überhaupt schürte das Regierungslager in den letzten Wochen mehr oder weniger geschickt die Angst, dass das gesunde Herz Europas unweigerlich außer Takt gerate, sollten im Herbst die falschen Leute ans Regierungsruder zurückkommen. Plötzlich wurde auch EU-Ratspräsident Donald Tusk als personifizierter Feind wiederentdeckt. Der trägt zwar keine Regenbogenfarben umher, dennoch taugt er für die Nationalkonservativen zum Schreckgespenst, weil er hinter der freundlichen Maske eines um Polen besorgten Landsmannes listig die nichtpolnischen Werte verbreite.