22. Jahrgang | Nummer 10 | 13. Mai 2019

Drei Opernnovitäten und die Faszination des Musiktheaters

von Joachim Lange

Sage keiner, mit Opernnovitäten wäre kein Staat zu machen. Mit neuen Literaturopern haben die Opernhäuser in Dortmund und Antwerpen und die Deutsche Oper Berlin im letzten Monat Furore gemacht. In Dortmund gab es die deutsche Erstaufführung von Luca Francesconis „Quartett“ nach dem Schauspiel von Heiner Müller. Antwerpen wagte sich an eine Opernversion von Héctor Parra zu Jonathan Littells Aufregerroman „Die Wohlgesinnten“. An der Deutschen Oper schließlich verwöhnte Detlev Glanert das Publikum mit einer regelrechten Wohlfühloper nach Theodor Fontanes Novellenfragment „Oceane“.

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„Quartett“ in Dortmund

Heiner Müller hatte für „Quartett“ die Dekadenz im Ancien Regime-Roman „Gefährlichen Liebschaften“ (von Pierre-Ambroise-Francois Choderlos de Laclos) in unsere Zeit projiziert. Francesconis Musik taucht aus dem Nichts auf, entfaltet sich zu einem Universum der Abgründe und entschwindet wieder dorthin. Philipp Armbruster macht am Pult aus dem präzisen Spiel der Dortmunder Philharmoniker und elektronisch vorgefertigten Zugaben eine Melange aus einem Guss. Im riesigen Opernhaus hat das Kammerspielformat viel Raum, geht dabei aber durch Ingo Kerkhofs Inszenierung dennoch nicht verloren. Ein Sofa und das üppige Blattwerk einer Trauerweide dominieren diesen Innen-Außenraum, in dem SIE und ER ihr Spiel der erotischen Exzesse verbal eskalieren lassen. Dank Allison Cook als Marquise Merteuil und Christian Bowers als Vicomte Valmont mündet das in ein suggestives Crescendo. Cook, die schon in der Mailänder Uraufführung 2011 dabei war, lebt den personifizierten Zynismus mit artistischer Perfektion auch körperlich aus. Wenn das sexuell grundierte (Rollen-)Spiel Spiel zum Kampf eskaliert, empathieloses Begehren Gewalt billigt, wird selbst der Giftmord an Valmont zu einer Form von Kommunikation.

„Die Wohlgesinnten“ in Antwerpen

Was in Dortmund noch der Blick in den individuellen Abgrund Mensch ist, weitet sich in Antwerpen zu einer Nahaufnahme des singulären Zivilisationsbruchs Mitte des vorigen Jahrhunderts. Opernversiert hat Händl Klaus (*1969) aus Littells Roman ein Libretto für Héctor Parra (*1976) destilliert. Hier wird Alles zu einem Drahtseilakt über Abgründen, weil es dem Holocaust in einer voyeuristischen Perspektive eines Täters nahe kommt. Der Antiheld Max Aue ist ein gebildeter, karrierebewusster und „überzeugter“ Nazi, der nie das System in Frage stellt und am Ende davon kommt. Dazu: die Biographie eines Homosexuellen, eine inzestuöse Obsession zu seiner Schwester, mit ihr gezeugte Zwillinge und dann auch noch der archaische Mord an der Mutter und deren zweitem Mann.
Das Problem bleibt auch in der Oper die scheinbare Nachvollziehbarkeit des Handelns und die dunkle Faszination des Grauens. Deutlich wird das, wenn mitten im Morden ein kleines Mädchen Max an der Hand fasst und nach der Mutter fragt, weil sie die nicht mehr sehen kann. Max singt daraufhin: „ich ging mit ihm und sagte dem nächsten soldaten / seien sie lieb zu dem Kind / er trug es wirklich auf dem arm / in die grube / zärtlich.“ Im Furor des aufgewühlten, meist dezidiert katastrophisch klingenden Orchesters und im Crescendo der Gewalt drohen diese Klippen jedoch überspült zu werden, obwohl sie für das Problematische, aber auch Herausfordernde der Erzählperspektive in Roman, Libretto und Oper stehen.
Zentrale Figuren sind der grandiose Tenor Peter Tantisits als dauerpräsenter Max und Rachel Harnisch als seine Schwester Una – so virtuos im ariosen Solo wie charismatisch in der Darstellung und als einzige Akteurin im Stück nicht von der Nazi-Ideologie infiziert.
Als Regisseur meidet Calixo Bieito, trotz drastischer Zutaten, platten Schocknaturalismus. Er findet Bilder, zu denen der Zuschauer das Interieur der Grausamkeiten selbst beizusteuern muss. Wenn geschossen wird, dann reicht die Nachbildung einer Pistole mit der Hand. Was ja die eigentliche Kunst ist, die hier von einer eindrucksvollen Musik getragen wird.
Musikalisch setzt Parra auf eine Haltung stets lauernder Überwältigung mit der Macht des Orchesters, in die bewusst musikalische Anspielungen und elektronische Klangversatzstücke eingewoben sind. Sie lässt es aber zu, dass die Sprache ihre subversive Wirkung entfaltet. Der Dirigent Peter Rundel spielt seine Vertrautheit mit der musikalischen Sprache von Hèctor Parra am Pult des Symphonischen Orchesters der Flämischen Oper voll aus (er hatte schon Parra’s „Wilde“ bei den Schwetzinger Festspielen geleitet). Aus dem mit vollem Stimm- und Körpereinsatz agierenden Ensemble ragen neben Peter Tantsits und Rachel Harnisch vor allem Günther Papendell als Thomas und Natascha Petrinsky mit geradezu hysterischem Furor als Max’ Mutter heraus.

„Oceane“ in Berlin

Verglichen damit, ist die Fontane Oper „Oceane“ von Detlev Glanert (*1960) pure Erholung. Der Komponist nennt seine 11. Oper „Sommerstück für Musik in zwei Akten“. Hans-Ulrich Treichel hat sein Libretto mal nicht aus einer Vorlage destilliert sondern, überzeugend ein Novellenfragment von Theodor Fontane (1819–1898) erweitert.
Im maroden, renovierungsbedürftigen Hotel von Madame Louise wird für die Stammgäste des Hauses gerade der übliche Sommerball vorbereitet. Man kennt sich. Neu ist nur die geheimnisvolle Oceane. Auftritt im langen glitzernden Abendkleid, Faszination des Schönen und zugleich Fremden. Besonders der junge Martin von Dircksen fühlt sich davon vom ersten Moment an angezogen und schafft es, sie nach anfänglichem Zögern zum Tanzen zu bewegen. Die hemmungslose Art wie sie sich in Ekstase tanzt, verstört die Gesellschaft, stachelt aber Martins Ehrgeiz an, sie ganz für sich zu gewinnen. Als er versucht, sie zu küssen, weist sie ihn brüsk zurück. Am nächsten Morgen wird am Strand ein Ertrunkener gefunden. Hier irritiert Oceane alle durch die Kälte ihrer Reaktion auf den Tod. Wenn sie Martin auf sein Liebesgeständnis hin heftig küsst, deutet er das als ein Ja zur Verlobung. Er zögert nicht diese Botschaft allen zu verkünden, doch die ganze Gesellschaft schweigt so demonstrativ, dass auch Oceane kein Wort herausbringt. Nachdem der Pastor sie obendrein zur seelenlosen Gefahr für alle erklärt hat, wird die Stimmung feindselig aggressiv; und der Blick in die Psyche einzelner zu einem in die der Gesellschaft und Oceane zur Projektionsfläche für die Ängste vor dem Fremden schlechthin.
Dieser Melusine-Geschichte in Heringsdorf verordnet Robert Carsen einen Terrassen- und Strandschauplatz mit Meer- und Wolkenblick in hochästhetischem Schwarz-Weiß-Grau. Die Kostüme assoziieren die Zeit vor dem ersten Weltkrieg.
Glanerts Musik dazu ist von einer geradezu hemmungslosen Schönheit. Durchweg gut zu singen. In den orchestralen Passagen von anspielungsreicher und süffiger Originalität. Das atmosphärische Mäandern im Grenzbereich des für Menschen Fasslichen, und den rechten Glauben Attackierenden, betört. Die Natur, vor allem das Meer bekommen einen Klang, die Hotelbesitzerin ein perfekt gebautes Erinnerungsparlando, Martin (Nikolai Schukoff) vitale robuste Gutmütigkeit. Maria Bengtsson ist als Oceane der faszinierende Mittelpunkt. Fremd und voll Sehnsucht; Donald Runnicles und sein Orchesters sind überzeugende Anwälte, dieser mit Charme aufblühenden Musik. Auch hier Jubel für ein Gesamtkunstwerk!

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Nächste Vorstellungen: „Quartett“ im Theater Dortmund am 17. Mai 2019; „Die Wohlgesinnten“ in der Oper Gent am 14., 16. und 18. Mai 2019 (später Übernahme nach Nürnberg); „Oceane“ in der Deutschen Oper Berlin am 15., 17. und 24. Mai 2019.