22. Jahrgang | Nummer 10 | 13. Mai 2019

Das Paradies von Wilhelmsruh

von Frank-Rainer Schurich

„Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt“, schrieb der bekannte argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges vor vielen Jahren. Auch die Wilhelmsruher haben sich mit ungewöhnlicher Unterstützung ihr kleines Paradies geschaffen, und das kam so:
Während im Jahr 2003 die Berliner Medien fast täglich neue „Sparideen“ des SPD-PDS-Senats kolportierten, starb die soziale und kulturelle Infrastruktur in den einzelnen Stadtbezirken eher leise. In Berlin-Mitte schlossen so die beiden Heinrich-Heine-Bibliotheken (für Kinder und Erwachsene) endgültig ihre Pforten. Rund 50.000 Besucher nutzten pro Jahr mit circa 87.000 Entleihungen die Angebote der Bibliotheken, aber die kulturfeindliche Politik kannte keine Gnade.
Auch prominente Proteste gegen die Schließung verhallten. „Wo die Arbeit der Bibliotheken eingestellt wird, verödet die Menschlichkeit, und es werden Armut und Aggressionen gefördert“, hieß es damals in einem Appell der Heinrich-Heine-Gesellschaft Düsseldorf an den Kultursenator und den Bezirksbürgermeister von Mitte, der unter anderem von den Schriftstellern Ingrid Bachér, H. Christoph Buch, F. C. Delius, Lea Rosh, Adolf Endler, Julia Franck, Ralph Giordano und Urs Jaeggi unterzeichnet wurde.
Im Jahr 2004 schloss auch der Stadtbezirk Pankow in mehreren Ortsteilen seine Bibliotheksfilialen. In Wilhelmsruh regte sich aber erheblicher Widerstand, man wollte die Schließung der Bibliothek in der Edelweißstraße auf keinen Fall hinnehmen. Kurzerhand wurde der Verein „Leben in Wilhelmsruh“ gegründet, dessen Ziel es war, durch bürgerschaftliches Engagement eine neue Bibliothek einzurichten und zu betreiben. Auch sollten dort Veranstaltungen aller Art stattfinden. So jedenfalls der Plan.
Als Domizil wurde ein denkmalgeschütztes, aber stark sanierungsbedürftiges ehemaliges Pförtnerhaus zum Industriegebiet PankowPark in der Hertzstraße 61 gefunden. Das weitläufige Areal gehörte einst dem VEB Bergmann Borsig, im Grenzgebiet zu West-Berlin gelegen. Nördlich begrenzt durch den Nordgraben (durch was auch sonst), südwestlich durch die Bahntrasse. Praktisch ein Industriegebiet, theoretisch für die DDR aber ein große Fläche in Form eines Dreiecks – im Niemandsland. Im Telefonverzeichnis Berlin. Hauptstadt der DDR der Deutschen Post wurde der Betriebsteil im Prinzip verschwiegen. Unter Jugendclub des VEB Bergmann Borsig 1055 Prenzlauer Allee stand: „1106 Kurze Str 5/6 + 4 80 08 21“, wobei + das Zeichen für eine Vermittlungsstelle war. Nur Eingeweihte wussten also über das weitläufige Betriebsobjekt in der Kurzen Straße, einer Parallelstraße zur Hertzstraße, Bescheid.
Nach der Wende erwarb der Schweizer ABB-Konzern, ein Technologiekonzern mit einem führenden Angebot für digitale Industrien, das gesamte Gelände; dieser stellte dem Verein „Leben in Wilhelmsruh“ das Gebäude kostenlos bis zum Jahr 2020 zur Verfügung – unter der Voraussetzung, dass der Betreiber die Bewirtschaftungskosten trägt. Die Sanierung konnte beginnen.
Von Vereinsmitgliedern, Sponsoren und mit Hilfe der RBB-Sendereihe 96 Stunden wurde die Ruine liebevoll und ehrenamtlich in ein schönes Industriedenkmal verwandelt. 278.000 Euro Sachspenden standen den Unterstützern zur Verfügung, mehr als 100.000 Stunden freiwilliger Arbeit der Vereinsmitglieder und Freunde der Bibliothek waren nötig, um die neue, vom Stadtbezirk und seiner rigiden Sparpolitik unabhängige Bibliothek zu vollenden und 2006 zu eröffnen. Das Ergebnis konnte sich wirklich sehen lassen. Chapeau! heißt es neudeutsch zu solch einem ehrenamtlichen Meisterwerk.
Seit Herbst 2006 gibt der Verein zudem ein eigenes Journal heraus. Der Wilhelmsruher informiert über die Vereinsgeschichte, über die Bibliothek und alles Wissenswerte in Wilhelmsruh und im benachbarten Pankower Stadtteil Rosenthal.
26 ehrenamtliche Bibliothekare sind heute tätig; an jedem Werktag ist die Bücherei vier bis fünf Stunden geöffnet. 19.500 Medien gehören zum Bestand, und 2.442 Leser haben das Angebot angenommen, Bücher, Spiele und CDs kostenlos auszuleihen. Monatlich gibt es im Schnitt zwei Veranstaltungen; eine langjährige Zusammenarbeit mit Schulen und Kindergärten in Wilhelmsruh hat das Ziel, bei den Kindern das Interesse am Lesen zu fördern. Bei „Leselaunen-Nachmittagen“ können die jungen Besucher nicht nur vorlesen, sondern auch singen und basteln, und das alles in fußläufiger Entfernung zu ihren Wohnungen. Für Kita-Kinder werden spannende Veranstaltungen organisiert. Leseförderung eben, die Spaß macht.
Bis zum 30. April 2019 war die Ausstellung „lupenrein und wasserfest“ zu sehen. Schüler der Klassen 1 bis 12 der Schule „Pankower Früchtchen“ haben für die Ausstellung Forschungsergebnisse, Zeichnungen und andere künstlerische Objekte rund ums Wasser zusammengestellt – vom Wilhelmsruher See bis zum Wattenmeer. Ein Riesenerfolg.
Die Erfolgsgeschichte der Wilhelmsruher Bibliothek könnte so weitergehen, aber der Vertrag ist ja, wie wir schon wissen, nur bis 2020 befristet. Der ABB-Konzern verkaufte das Haus zwischenzeitlich an die Berlin Rock Coaches, ein Unternehmen für den Tourservice von Rock- und Popgruppen und anderen Künstlern aus der Musikbranche, und der neue Eigentümer hat eben seine eigenen Pläne. Was heißt, die Bibliothek muss am 24. April 2020 schließen – oder umziehen.
Aber wohin? Trotz vielfältiger Bemühungen des Vereins, ein neues Domizil zu finden, sah die Zukunft bis vor kurzem düster aus. Keine Bibliothek in Wilhelmsruh? Die vielen Freiwilligen, die damals jeden Stein umdrehten, um das Haus zu rekonstruieren, und die Sponsoren waren über diese Entwicklung fassungslos.
Dann geschah aber irgendwie ein Wunder: Das Berliner Abgeordnetenhaus stellte im April 2019 dem Verein eine halbe Million Euro für den Kauf einer Immobilie zur Verfügung. Nun wird fleißig gesucht, in welchem Domizil die Bibliothek wiedereröffnet werden kann. Es ist so viel erreicht worden, dass man sicher sein kann: Es wird eine gute Lösung geben. Und die Wilhelmsruher Bibliothek feiert ihren 15. Geburtstag eben woanders.
Darüber würden sich alle sehr freuen, besonders aber die Kinder, die die Zauberwelt Buch ins Herz geschlossen haben. „Aus Druckerschwärze entstehen Dinge, Menschen, Geister, Götter, die man sonst nicht sehen könnte“, schrieb Erich Kästner in seinem Buch Als ich ein kleiner Junge war. Erinnert sei auch an den Gassenjungen Damião aus Jorge Amados Werkstatt der Wunder: „Keine Schule hielt ihn, keine Schläge überzeugten ihn, dreimal war er aus dem Kinderasyl geflohen. Aber Archanjos Bücher […], das ansteckende Lachen, die lebhafte, brüderliche Stimme – ‚Setz dich hierher, mein kleiner Freund, komm lies eine spannende Geschichte mit mir‘ – gewannen den Strolch für Literatur und Rechnen.“
So ist also zu wünschen, dass das neue Bücherparadies in Wilhelmsruh eine glänzende Zukunft vor sich hat. Auch, damit die Menschlichkeit im Kiez nicht verödet.

Mehr Informationen über den Verein „Leben in Wilhelmsruh“ im Internet.