22. Jahrgang | Nummer 9 | 29. April 2019

Ukrainisches

von Erhard Crome

In einer sowjetischen Staatsdatscha in Wiskuli im Urwald von Belowesch nahe der polnischen Grenze trafen sich am 7. Dezember 1991 auf Einladung des weißrussischen Parlamentschefs Stanislaw Schuschkewitsch die Präsidenten Russlands, Boris Jelzin, und der Ukraine, Leonid Krawtschuk. Sie wollten gemeinsam auf Wildschweinjagd gehen und über die Gas- und Erdöllieferungen aus Russland reden. Nebenbei beschlossen sie die Auflösung der Sowjetunion. Am Mittag des 8. Dezember hatten sie das Abkommen fertig, die UdSSR aufzulösen und einen neuen Staatenverbund „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ zu errichten. Über die Auflösung der Sowjetunion informierte Jelzin per Telefon freudig erregt den USA-Präsidenten George Bush Sen., nicht aber Michail Gorbatschow. Der wusste von den Vorgängen im Gästehaus nur durch den Geheimdienst KGB, weil das Haus verwanzt war.
Jelzin freute sich über die Abschaffung der noch immer von Michail Gorbatschow repräsentierten Union so sehr, dass er bei einem gemeinsamen Bankett auf jeden der 14 Artikel des Vertrages einen kräftigen Wodka trank. Von der auf 17 Uhr angesetzten Pressekonferenz konnte keine Rede sein, weil Jelzin nicht mehr redefähig war. Die fand um zwei Uhr nachts statt, wobei Jelzin zunächst auf dem Teppich hinfiel und sich übergab. Die ukrainische Delegation war in den Belowescher Wald gefahren in der Hoffnung, die Unabhängigkeit der Ukraine zu erreichen, und erwartete, dass Russland zumindest die Stadt Sewastopol, aber wahrscheinlich die ganze Krim behalten wollte. Die Ukraine war bereit zuzustimmen, dass die Krim zu Russland kommt, wenn sie die Unabhängigkeit erhält. Am Ende waren Krawtschuk und seine Entourage völlig erstaunt, dass der besoffene Jelzin das Wort Krim nicht einmal in den Mund genommen hatte.
Zbigniew Brzezinski, einer der Vordenker US-amerikanischer Globalpolitik, betonte seit den 1990er Jahren, eine unabhängige Ukraine sei Grundbedingung dafür, dass Russland nicht wieder eine einflussreiche Großmacht werden kann. In diesem Sinne richteten sich die Blicke der westlichen Regierungen und Geheimdienste besonders auf die Ukraine. Victoria Nuland, bis Januar 2017 stellvertretende Außenministerin der USA mit Zuständigkeit für Europa und Eurasien, wurde öffentlich bekannt 2014 durch den Spruch: „Fuck the EU“. Da lief der von ihr maßgeblich mitinitiierte Regimewechsel in der Ukraine gerade auf Hochtouren. Sie wollte die Entscheidung, wer die neuen Spitzenpersonen in Kiew sind, nicht den „Partnern“ in der EU überlassen. Die USA hatten zwischen 1991 und 2014 fünf Milliarden Dollar für die Vorbereitung des Staatsstreichs in Kiew ausgegeben. Die größte Summe kam vom Außenministerium und von staatlichen Organisationen wie der United States Agency for International Development (USAID).
Nachdem der Westen die Ukraine-Krise ausgelöst hatte, war nicht klar, ob das Hinüberziehen der Ukraine aus dem Einflussgebiet Russlands in den Orbit von EU und NATO eine USA-Politik (von Obama und Clinton) war, die von der EU bezahlt werden sollte, oder eine deutsche beziehungsweise „europäische“ Strategie, für die die USA das militärische Drohpotential im Hintergrund zur Verfügung stellten. Am Ende wurde die Ukraine der EU assoziiert. Im Februar 2019 schrieb das Land einen EU- und NATO-Beitritt als Staatsziel in die Verfassung. Der Milliardär Petro Poroschenko regierte seit 2014 als Präsident das Land und erschien stets als der Statthalter westlicher Politik. Ganz in diesem Sinne empfing Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz vor der entscheidenden zweiten Runde der Präsidentenwahl am 21. April 2019 Poroschenko in Berlin, um deutlich zu machen, dass er der Kandidat Berlins ist. Das hat ihm aber nichts genützt. In der Stichwahl entschieden sich 73 Prozent der Wähler für den Gegenkandidaten Wolodymyr Selensky.
Parallel zum Regimewechsel in Kiew wurde die Krim Russland angeschlossen, was aufmerksame Beobachter wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer als die logische geopolitische Konsequenz des Umsturzes in Kiew angesehen haben. In der Ostukraine bildeten sich prorussische separatistische Republiken heraus, die von Russland unterstützt, aber nicht Russland angegliedert wurden. Zugleich gelang es der ukrainischen Regierung nicht, diese Gebiete mit militärischer Gewalt wieder der eigenen Kontrolle zu unterwerfen. Der kluge Satz eines Analytikers, den Kampf zwischen dem Zaren und den Bojaren hat in Russland der Zar gewonnen, in der Ukraine gewannen ihn die Bojaren, schien sich immer wieder zu bestätigen. Oligarch Poroschenko wirkte stets wie der Vorsteher der Bojarenklasse. Alle seine Bekundungen, er werde deren Macht einschränken und die Korruption bekämpfen, blieben Schall und Rauch.
Die innere Lage in der Ukraine war vom Westen her stets schwer zu überblicken. Das Geschrei westlicher Politiker, die für ihre antirussische Sichtweise bekannt sind, die Nachrichten über die offensichtlich faschistischen Umtriebe in der Westukraine, Bilder von Prügeleien der Abgeordneten in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, machten die prowestlichen Bekundungen ukrainischer Politiker ebenso unglaubhaft, wie die „patriotischen“ der prorussischen aus Lugansk und Donezk stets gestellt wirkten. Berichte von linken, demokratischen Gruppen über ihre Ukraine wirkten daher stets als Wunschdenken. Die 73 Stichwahlprozente für Selensky sind nun aber offenbar Ausdruck einer wirklichen Volksbewegung, die alle alten Macht- und Politikmuster satt hat. Es scheint nun vieles offen.
In den westlichen Medien, auch Deutschlands, wurde Selensky, der kein Politiker ist, sondern als Fernsehkomiker landesweit bekannt wurde, stets als „Clown der Nation“, „Komiker“, jedenfalls nicht ernst zu nehmen etikettiert. Gleichwohl gab es offizielle Glückwünsche zur Wahl. Selensky, der aus der Ostukraine stammt, kündigte an, er wolle das Problem der „Volksrepubliken“ im Osten lösen, indem er den Menschen deutlich macht, dass sie in der Ukraine eine Perspektive haben.
Russland verhielt sich zunächst ausgesprochen zurückhaltend. Es sei „zu früh“, über einen Glückwunsch von Präsident Wladimir Putin an Selensky oder „die Möglichkeit einer Zusammenarbeit“ zu sprechen, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am 22. April. Nur anhand von „Taten“ könne dies beurteilt werden. Das klingt, diplomatisch betrachtet, zumindest eigenartig. Dem früheren Präsidenten Wiktor Janukowytsch hatte Putin 2004 zu seiner ersten Wahl gratuliert, da war die Auszählung noch nicht beendet, und am Ende musste die Wahl wiederholt werden, wonach Wiktor Juschtschenko Präsident wurde. Aber Janukowytsch galt als Favorit Russlands.
Wenn es richtig ist, dass Selenskys Wahl Ausdruck eines freien Volkswillens ist – der offenbar weder vom Westen noch von Russland gewollt war –, dann stellt allein schon diese Wahl die Grundeinschätzung in Frage, dass es sich in der Ukraine ausschließlich um faschistische Machenschaften und westliche Geheimdienstumtriebe handelt. Damit entfiele die ideologische Grundlage der Republiken von Lugansk und Donezk.
Nun hat Russland die Ausstellung russischer Pässe für Bürger aus der Ostukraine erleichtert, woraufhin Selensky den Westen aufforderte, die Sanktionen gegen Russland weiter zu verschärfen. Damit wäre die feindselige Konstellation von vor der Wahl wiederhergestellt. Zugleich erklärte Präsident Putin, er sei zur „vollen Wiederherstellung“ der Beziehungen Russlands zur Ukraine bereit. Daran wiederum hat der Westen kein Interesse. Es wird spannend nach dieser Wahl.