von Jürgen Brauerhoch
Lese ich doch unter bahn.de, dass es von München, Frankfurt, Köln nach Paris einen „Frankreich-spezial“-Tarif gibt. Da kostet beispielsweise die etwa sechsstündige Zugfahrt von München statt weit über hundert nur 39, höchstens 49 Euro. Das ist weniger als die reguläre Fahrt nach Stuttgart. Aber man fragt sich selbst im Schnäppchenwahn, warum man nur deshalb in einem weiten Bogen über Paris nach Spanien fahren sollte. Immerhin wusste ich: Von Paris fährt allnächtlich ein Schlafwagenzug der spanischen RENFE nach Barcelona, ein sogenannter Talgo mit dem schönen Namen Pablo Casals.
Dieser Talgo rast übrigens ohne Halt quer durch Frankreich zur Grenzstation Portbou, die wiederum eine tragische Rolle für viele Deutsche gespielt hat. Für jene nämlich, die im Zweiten Weltkrieg versuchten, der Hitler-Diktatur über Spanien und Portugal nach Amerika zu entkommen. Walter Benjamin nahm sich in der Grenzstadt das Leben, als er keine Hoffnung mehr sah. Ein Denkmal für ihn steht direkt am Meer. Das ist schon alles, was an die Nöte und Drangsale vieler aufrechter Menschen erinnert, darunter Heinrich und Golo Mann.
Aber zurück nach Paris. Die Station, in der dieser gedrungene Schlafwagenzug am Bahnsteig steht, heißt „Gare d’Austerlitz“. Wie, denkt man als überzeugter Pazifist, kommt ein Bahnhof zu einem so kriegerischen Namen? Eine Überlegung, die einen schon unterwegs bei der Metrostation „Stalingrad“ beschäftigte. Natürlich könnte man sich ohne große Mühe vorstellen, dass die Franzosen aus Freude über Hitlerdeutschlands entscheidende Niederlage irgendeine populäre Einrichtung, etwas Öffentliches, danach benennen wollten, aber mein Gott … Austerlitz? Was hat ein Bahnhof mit Napoleons Schlacht und Sieg von Austerlitz zu tun? Als dieser vorletzte Pariser Bahnhof Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut wurde, war die Schlacht längst geschlagen. Wozu ausgerechnet diese Reminiszenz? Gab es vielleicht in Berlin jemals einen Bahnhof, der nach Sedan oder Dünkirchen genannt wurde, nach geschichtsträchtigen Schlachten, die ausnahmsweise mal die Deutschen gewonnen hatten? Der Sedan-Tag wurde zwar in der Vergangenheit begeistert gefeiert, mit martialischen Umzügen und patriotischen Reden vor ausnehmend hässlichen Denkmälern. Doch einen Bahnhof so zu benennen, wäre wohl selbst wildesten Patrioten nicht in den Sinn gekommen.
Über drei Stunden fährt man von München auf deutschem Gebiet, mit Halt an jedem dicken Baum (Augsburg, Ulm, …). Nur gut zwei Stunden geht’s anschließend nonstop von Strasbourg nach Paris. Als Strasbourg in Sicht kam, musste ich mal wieder an unser Universalgenie Johann Wolfgang denken. War der spätere Geheimrat zu der Zeit, als Strasbourg noch Straßburg hieß, nicht von hier aus hin und wieder zu seiner damaligen Geliebten geritten, statt Jura zu studieren … Und war diese attraktive Dame nicht eine Ulrike von Sowieso gewesen? Immer wieder eine Schande, wie wenig man wirklich weiß!
Pünktlich 16 Uhr 34 rollt der ungemütlich enge, aber schnelle TGV in Paris, Gare de l’Est ein. Jetzt ist man also da, in der Stadt der Städte, am Mittelpunkt der Welt, zumindest der Revolution, und schon fühlt man sich irgendwie interessanter, bedeutender jedenfalls, als wenn man in Wanne-Eickel oder Jüterbog umgestiegen wäre. Obwohl, die Mitreisenden sehen hier nicht viel anders aus und auch sonst entpuppt sich das berühmte Paris als lästige Großstadt wie jede andere, mit hastenden Menschen, Unmengen von Autos und kaum erträglichem Krach. Immerhin, auf dem riesigen Halbrund vor der Gare de l’Est gibt es eine Fülle von Bistros und Bars und Brasseries. Ein Bahnhofsvorplatz, mit dem weder Frankfurt am Main noch Köln und schon gar nicht München oder Hamburg konkurrieren können. Die Austern, die ich endlich bestellen kann, sind frischer als je zuvor und machen Appetit auf Meer.
Jetzt aber zur Gare d’Austerlitz! Noch sind weder die Russen noch die Österreicher auf dem Schlachtfeld eingetroffen und auch Bonaparte fehlt noch, aber der Zug, der spanische, steht am düsteren Bahnsteig in der gusseisernen Halle und iberisches Personal begleitet einen zur Kabine. Dass Rauchen hier verboten ist, erkennt man gleich an den Aschenbechern, die am Bett neben einer kleinen Leselampe angebracht sind. Alles übrigens irgendwie appetitlicher als in den Nachtzügen der Deutschen Bahn, dazu mit kleinen liebevollen Zutaten wie Einmal-Zahncreme samt Bürste, Feile und Kamm im Waschregal, dazu zwei Flaschen Mineralwasser. Vor allem aber eine dichte Jalousie am Fenster, die den geringsten Schimmer eines den Schlaf störenden Lichtes abhalten wird. Das Schönste jedoch am Zug oder vielmehr in seiner Mitte ist ein Speisewagen mit spanischer Gastronomie zu soliden Preisen. Der ist fast so lange „abierto“ wie die Restaurants im Zielgebiet. Hier kann man noch um 11 Uhr nachts ein nicht einmal teures Menü bestellen und ein Cruzcampo-Bier trinken und keiner wimmelt einen Hungrig- oder Durstigen mit der kaltschnäuzigen Bemerkung ab, die Küche sei geschlossen.
Bis zur Heimat der Jungfrau von Orleans rauscht der Talgo auf neuer Trasse fast geräuschlos dahin, beinahe so wie der Luxuswagen, den ein amerikanischer Werbetexter so anpries: „Das einzige Geräusch, das man in einem RollsRoyce bei 80 mph hören kann, ist das Ticken der elektrischen Uhr.“ Mitten durch Frankreich geht es später auf Rumpelstrecken weiter. Als ich durch das Ruckeln und Schütteln aufwache und angestrengt in die Nacht hinaus schaue, kann ich in einer Lichtorgie das Schild „Limoges“ entdecken, und wieder bedaure ich, wie wenig ich überhaupt und speziell über Limoges weiß. Später bei Google sehe ich, dass die einen ganz verrückten Bahnhof haben, genannt „Gare des Bénédictins“ – hundert Jahre vor dem bayrischen Papst.
Kurz nach Narbonne wache ich endgültig auf, denn jetzt, im ersten Morgenlicht, beginnt der erregendste Abschnitt dieser Reise – die Annäherung ans Meer. Mensch, Mittelmeer! Dich zu sehen, lohnt sich jede Fahrt – und sei es über Stalingrad und Austerlitz oder meinetwegen auch durch die Hölle. Hauptsache, mit einem spanischen Speisewagen!
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