von Hubert Thielicke
Die NATO wurde 70. Ein Grund zum Feiern? Jedenfalls taten das in Washington am 4. April, an welchem Tage dort 70 Jahre zuvor der Nordatlantikvertrag unterschrieben wurde, die Außenminister der 29 Mitgliedstaaten. Nicht ohne rasch noch Maßnahmen zur Aufstockung der militärischen Präsenz im Schwarzen Meer zu beschließen, also vor Russlands südlicher Haustür. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt – „Honi soit qui mal y pense“, wie es so schön auf dem englischen Hosenbandorden heißt. Aber es knirscht kräftig im Bündnisgebälk. Das zeigten auf diversen Washingtoner Festveranstaltungen die Auftritte von US-Politikern, bei denen vor allem Deutschland als „Prügelknabe“ herhalten musste. Insgesamt werden die Feierlichkeiten begleitet von mehr oder weniger heftigen Diskussionen rund um die Frage: Ist die NATO notwendig oder nicht? Für die einen ist sie eine „großartige Erfolgsgeschichte“ und steht für „Sicherheit und Freiheit in Europa“, für die anderen ist sie „ein Relikt des Kalten Krieges“, das durch eine umfassende europäische Sicherheitsorganisation ersetzt werden muss. In der Öffentlichkeit läuft die Diskussion über Zweck und Zukunft der Organisation. Schließlich sind es die Bürger der Mitgliedsländer, welche für die geplanten höheren Militärausgaben herhalten müssen, aber nach Ansicht der Nordatlantiker davon abgehalten werden sollen, nicht wieder zu Hunderttausenden gegen die – demnächst durchaus mögliche – Stationierung neuer Atomraketen auf die Straßen zu gehen, wie in den 1980er-Jahren geschehen.
Auch in Berlin ließ man das Jubiläum nicht vorübergehen. Am 4. April ging es auf einer Veranstaltung der Deutschen Atlantischen Gesellschaft und Inforadio (rbb) um „Die Zukunft der Nato in einer unvorhersehbaren Welt“. Das diskutierten: Christian Schmidt, Präsident der Deutschen Atlantischen Gesellschaft, ehemaliger Bundeslandwirtschaftminister und langjähriger Staatssekretär im Verteidigungsministerium; Stefan Liebich, Außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Bundestag; General a. D. Horst-Heinrich Brauß, früherer Beigeordneter NATO-Generalsekretär; und Claudia Major von der SWP-Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Die Diskussion fokussierte auf derzeit heftig umstrittene Fragen wie Rolle der Trump-Administration, Zwei-Prozentziel und Verhältnis zu Russland. Die NATO stecke in einer „existenziellen Krise“, könne nicht einfach weitermachen wie bisher, sei kein Bündnis für die Zukunft, so Stefan Liebich. Leider sei vor fast 30 Jahren die Chance vertan worden, eine umfassende europäische Sicherheitsorganisation unter Einschluss Russlands zu schaffen. Dagegen betonte General Brauß, man müsse am Bündnis festhalten, denn die gefährliche Lage erfordere den Schutz der Bündnismitglieder: Russland rüste verstärkt auf, seine aggressive Politik bedrohe seine Nachbarn, russische Atomraketen seien auf Berlin gerichtet et cetera. Andere Teilnehmer verwiesen auf „innereuropäische und transatlantische Zerwürfnisse“ und hatten dabei nicht zuletzt die erratische Politik der Trump-Administration im Blick. Zugleich machte man sich Hoffnung mit dem Argument, dass sich die NATO im Verlauf der Jahrzehnte immer wieder „selbst erfunden“ habe. Und ja – immerhin habe sich erst kürzlich der US-Kongress deutlich zur Organisation bekannt, sogar mit Jens Stoltenberg erstmals einen NATO-Generalsekretär zur Rede vor beiden Kammern eingeladen.
Stärker noch als sein Vorgänger fordert Trump unter Berufung auf das in Wales 2014 festgelegte Ziel, zwei Prozent des BIP fürs Militär auszugeben, kritisiert dabei insbesondere das reiche Deutschland als zu säumig. Selbst gestandene NATO-Befürworter äußern sich dazu mitunter zurückhaltend, General Brauß sprach von einer „unglücklichen Ziffer“. Schließlich gehe es ja nicht nur ums Geld, sondern vor allem um militärische Fähigkeiten, Einsätze und dergleichen. Immerhin sei Deutschland zweitgrößter Truppensteller bei Bündniseinsätzen. Aber es habe sich nun mal 2014 zum Zwei-Prozent-Ziel bekannt, man müsse glaubwürdig bleiben, es ginge um eine „faire Lastenteilung“. Ergo: Der „große Bruder“ soll bei Laune gehalten werden. Auf einen gewichtigen Fakt machte Liebich aufmerksam: Während Russland derzeit etwa 65 Milliarden US-Dollar Militärausgaben pro Jahr verzeichne, geben die USA allein mehr als Zehnfache aus, die NATO insgesamt fast eine Billion. Aber die USA trügen eine „globale Verantwortung“, müssten eben überall präsent sein, während Russland doch „nur eine Landmacht“ sei, entgegnete der ehemalige NATO-General. Er wunderte sich auch höchlichst darüber, dass man in Deutschland offensichtlich mehr Angst vor der NATO als vor Russland habe. Deutschland müsse mehr für die Bundeswehr ausgeben, pflichtete die SWP-Expertin bei, schließlich gehe es um Bündnisverteidigung, den Schutz der baltischen Staaten, Polens und so weiter. Aber die Bundeswehr sei ja leider derzeit gar nicht einsetzbar. Die NATO müsse bereit sein, Truppen für UN-Einsätze zu stellen, denn die habe nun mal selbst keine, meinte Christian Schmidt, was wohl auch eine Begründung für die Daseinsberechtigung des Bündnisses sein sollte. Allerdings gebe es leider im UN-Sicherheitsrat Differenzen über solche Einsätze, immer sei heute einer dagegen, wobei er sicher vor allem an Russland, aber auch an China dachte. Im Falle Libyens sei jedoch ein gemeinsam beschlossener Einsatz nicht erfolgreich gewesen, weil NATO-Staaten den Beschluss des Sicherheitsrates brachen, so Liebich. Im Übrigen sei angesichts der Haltung der Trump-Administration zur UNO eine konstruktive Lösung seitens des westlichen Militärbündnisses auch schwer vorstellbar. Es gehe vor allem um das „Kerngeschäft der NATO“, und da könne die UNO eigentlich keine hilfreiche Richtung sein, so die Meinung von Claudia Major.
Als Dreh- und Angelpunkt der Diskussion erwies sich die „russische Frage“. Russland wolle nicht Teil Europas sein, behauptete Brauß. Es setze täglich Cybermittel ein, habe die Wahlen in den USA beeinflusst und alle Verträge gebrochen, die nach dem Kalten Krieg mit ihm geschlossen wurden. Das müsse doch klar sein! Russland doch eine andere Politik verfolgen, forderte Christian Schmidt. Also im Grunde die altbekannte Denkweise: Die andere Seite liegt falsch, was ich tue, das ist wohlgetan. Liebich charakterisierte das zu Recht als „böser Russe – guter Westen“. Aber kann das eine Politik für die Zukunft sein? Gehört dazu nicht Empathie, die Bereitschaft und die Fähigkeit, die Interessen der anderen Seite ins Kalkül ziehen? Ein junger Offizier aus dem Publikum brachte es auf den Punkt: Müsse man nicht genauso, wie man den Sorgen der baltischen Staaten Rechnung trage, auch die Sorgen Russlands berücksichtigen?
Schlagwörter: Hubert Thielicke, Militärausgaben, NATO, Russland, Stefan Liebich