22. Jahrgang | Nummer 9 | 29. April 2019

Herzenssachen

von Erhard Weinholz

Die Menschen, so hatte ich neulich in diesem Blatt geschrieben, ahnten nichts von dem, was auf sie zukommt, die meisten würden nicht einmal ahnen, dass es überhaupt etwas zu ahnen gibt. Im Unterschied zu mir natürlich, hatte ich dabei gedacht. Doch Hochmut kommt vor den Fall: Unserer Übungsleiterin beim Reha-Sport fiel eines Tages auf, dass meine Pulsfrequenz schwankt wie ein Rohr im Winde, und die Hausärztin schickte mich, nachdem sie mein EKG beschaut hatte, ganz unerwartet ins nächstgelegene Krankenhaus – per Notaufnahme in die Kardiologie.
Diese Herzabteilung hat man, wie es aussieht, vor ein paar Jahre neu eingerichtet, und das bringt uns sicherlich mancherlei Nutzen. Doch in einer Hinsicht kann sie mit älteren Stationen nicht mithalten: Es sammeln sich dort nämlich im Laufe der Jahre, meist im Aufenthaltsraum, kleine Bibliotheken an, in denen der Bücherfreund Entdeckungen machen kann. Zum Beispiel fand ich einmal an solchem Ort Raabes „Die Leute aus dem Walde“, 1954 bei Aufbau in der Reihe „Romane der Weltliteratur“ erschienen, knackfrisch, die Seiten klebten noch zusammen – das war bei mir zu Hause natürlich besser aufgehoben. Hier dagegen: gerade einmal sechs alte Schwarten, darunter als besonderer Leckerbissen, passend zum Charakter der Station, Tina Waldmanns „Herzen im Sommerwind“: „Als das letzte Licht verlosch, lag Coretta in seinen Armen, und er küßte sie wieder und wieder.“ Die Sache spielte aber nicht im Krankenhaus, sondern in einer Tauchschule.
Zweierlei bestimmt den Alltag auf unserer Station und wird allgemein beklagt: langes Warten, das ich zudem nicht einmal für Lektüre nutzen kann, und Mangel an Information. So erfahre ich bei einem letzten Gespräch mit dem Arzt zwar Wissenswertes über meine Erkrankung, nichts aber über die Medikamente, die er mir verschrieben hat, nichts darüber, was ich fortan tun und was ich lassen soll. Sind wir nicht auch wegen der miesen Informationspolitik der SED einst auf die Barrikaden gegangen? Das Warten wird besonders dann zum Ärgernis, wenn ihm Drängelei vorhergeht; erst muss man sein Mittagessen im D-Zug-Tempo verschlingen, dann liegt man stundenlang im Vorraum der Untersuchungsabteilung herum. Die Sache hat aber auch ihr Gutes: Man kommt dabei mit der Nachbarin, dem Nachbarn ins Gespräch, und so erfahre ich zum Beispiel an jenem Tage – auf welchem Wege, zeichne ich hier mal nicht nach –, dass der Ehemann einer Patientin am 18. März 1990 Vereinigte Linke gewählt hat, als einer von nur 20.000 in der ganzen DDR, wie ich ihr darauf sagte. Zu gern hätte ich einmal einen unserer Wähler kennengelernt, gab der Frau mein Kärtchen, doch die versprochene Rückmeldung blieb aus.
Beim nächsten Mal musste ich nicht vor, sondern nach der Untersuchung lange warten, es war keine Transportkraft frei, die mich im Rollstuhl hätte zurückschieben können. Nun packte mich endlich der revolutionäre Eifer. Hatte es nicht im Westen einmal Sozialistische Patientenkollektive gegeben? Könnte man nicht auch heute die geduldig Wartenden für einen systemüberwindenden Krankenhauskampf gewinnen? Selbst bei allgemeiner Missstimmung kommen solche Kämpfe aber nur dann in Gang, wenn sich ein Gegner benennen lässt, jemand, der schuld an allem Übel ist. Wer sollte das hier sein? Die Ärzte auf der Station machen ohnehin dauernd Überstunden, die Klinikleitung würde auf die Krankenkassen verweisen, die sie zum Sparen zwingen, diese wiederum auf uns Beitragszahler, die es gern billig haben wollen – wo kann man noch eingreifen in diesen Kreisverkehr? Egal, dachte ich, dann wird wenigstens individuell rebelliert. Und ich schob, an allen Vorschriften vorbei, meinen Rollstuhl selber zur Station zurück. Doch schien niemand zu bemerken, dass dies ein Akt der Auflehnung war.
Manches also ist zu bemängeln, anderes griff bestens ineinander: Zum Beispiel ist das Mittagessen dort eben auch so beschaffen, dass man es notfalls im D-Zug-Tempo zu sich nehmen kann. Das Frikassee, das ich bei meinem letzten Aufenthalt vor zwei Jahren tagtäglich bestellt hatte, rutscht genauso flott herunter wie mein Stammessen dieses Mal: Kartoffelpüree, Blumenkohl und Gulasch oder Boulette in einer braunen Sauce. Diese nun barg, um einmal im Stile von „Herzen im Sommerwind“ zu reden, ein dunkles Geheimnis in sich: Trotz Zugabe einiger vornehmer Pilzscheiben schien sie mir niederer Herkunft zu sein und dem Hause Maggi zu entstammen. Doch heute, wo sich Grafen aus altem Geschlecht mit Bürgertöchtern namens Oetker oder Otto vermählen, ist eine solche Herkunft keine Schande mehr – oder bloß noch ein ganz bisschen, und außerdem mundete alles hinreichend, nur waren die Portionen etwas klein. Zum Glück lag auf der Station meist Knäckebrot aus; es schmeckte besser als gedacht und trug obendrein zu meiner Bildung bei: „Zwei Scheiben, deux tranches“ war auf der Packung zu lesen – ich verstand auf einmal genauer, was tranchieren bedeutet, auch wurde mir plötzlich klar, dass Abschnitt etwas mit Abschneiden zu tun hat. Es ist manchmal gut zu wissen, was an Konkretem hinter den Abstrakta steht.
Am letzten Abend wollte ich mich in die große Halle am Hauptausgang setzen und eine Weile das Leben und Treiben dort beschauen. Doch ich fand keinen Platz: Südländische Großfamilien hielten, nach Geschlecht getrennt, sämtliche Bänke besetzt – für den Park war es zu jener Zeit noch zu kalt. Mancher würde aus dergleichen ein Drama machen; tatsächlich aber ist ein Armutszeugnis im wahrsten Sinne des Wortes, sich ausgerechnet im Krankenhaus treffen zu müssen. Im Übrigen ging es sehr gesittet zu. Vielleicht findet sich dennoch eine bessere Lösung.
Am Morgen darauf träumte ich von unaufhörlichem Regen; die Straßen hatten sich in Flüsse verwandelt. Aus einem Fenster schaute ein altes Ehepaar. Vielleicht machen Sie einen Bootsverleih auf, sagte ich zu den beiden. Ja, so geht es auch: der Malaise scherzend begegnen. Doch im Leben gelingt es mir nicht, ich verfluche den ganzen Laden, weil keiner mir sagen kann, für wann die letzte Behandlung geplant ist. Im Spiegel lese ich etwas über zunehmende Angriffslust als Folge eines übersteigerten Individualismus. Aber vielleicht steht manchmal auch etwas anderes dahinter: die Erfahrung, der Mitwelt hilflos ausgeliefert zu sein.