22. Jahrgang | Nummer 9 | 29. April 2019

Gerhard Kettner:
Die Gelassenheit des Wartenkönnens

von Klaus Hammer

Unter allen künstlerischen Ausdruckformen ist die Zeichnung wohl die spontanste und älteste. Sie erscheint so einfach – jedes Kind zeichnet -, aber gerade das Andeutende einiger weniger Striche regt die Phantasie des Betrachters an, Gegenstände, Figuren oder Szenen erst zusammenzuschauen und das nicht mehr Präzisierbare einer Vision, Ahnung oder einer Idee zu erspüren.
Die Galerie Pankow erweist einem der wichtigsten Vertreter der Dresdner Schule, einer der wichtigsten Zeichnerpersönlichkeiten der Gegenwart, dem 1993 verstorbenen Gerhard Kettner, ihre Reverenz. Ausstellung und Katalog waren für das Leonhardi-Museum Dresden eingerichtet worden und sind nun auch in Berlin zu sehen. Aus dem umfangreichen Oeuvre Kettners wurden mit großer Sorgfalt mehr als 70 Blätter, Porträts, Figurendarstellungen, Akte, Landschaften, Interieurs aus fast fünf Jahrzehnten ausgewählt, die ausnahmslos erlesene Exemplare in jeder Sammlung der Zeichnungen wären. Kettner, der Bergmannssohn aus Thüringen, hat in Weimar und Dresden bei Otto Herbig, Max Grundig und Max Schwimmer studiert, ist aber vor allem von Hans Theo Richter geprägt worden, der die autonome Zeichnung durch qualitative Steigerung der freien Studie nach dem Modell entwickelt hatte. Auch Kettner, seit 1961 selbst Hochschullehrer an der Dresdner Kunstakademie, zweimal dort Rektor, hat ein Motiv oder eine Haltung mehrmals gezeichnet, gleichsam als Vorantasten auf einem geahnten Weg. Ganze Folgen sind so zu einzelnen Figuren entstanden. In rigoroser Selbstbehauptung ausschließlich auf Zeichnung und Lithografie hat er sich die Konzentration auf Wesentliches, die Gelassenheit des Wartenkönnens, förmlich anerzogen. So bekannte er selbst: „Seine Grenzen zu erkennen, um sich darin einzurichten, braucht Vertrauen in die eigene Kraft. Man soll das Mögliche tun, aber Erträge muss man erwarten können.“
Die dunkle Tonigkeit der frühen Blätter, die in gleicher Weise noch der (Stadt-)Landschaft wie der Figur gewidmet sind und für die er vorzugsweise Lithokreide auf grauem oder bräunlichem Papier verwandte, wich später einer größeren Einfachheit wie Feinlinigkeit des Strichs. Aus dem flächigen Weiß des Blattes ließ er die Körperlichkeit der Figur erstehen. Modellierend fängt der Graphitstift das Köpfchen des „Säuglings in Tüchern“ (1965) ein. Verwandte, Freunde, Lehrer, Mütter und Kinder sind die Personen seiner Porträts. Er hat sie genau studiert, sie sind ihm vertraut, ihre Physiognomie wie ihre Psyche, ihre Haltung wie ihr Lebensgefühl. Ein fragmentarischer Stil, eine Minimalgeste bildet sich aus, die die lapidare wie nervöse Linie, ganze Linienbündel, als Ausdrucksträger, Empfindungsvermittler begreift, dann sich aber auch wieder mit dem Ertasten von Tiefenbezügen bescheidet. Immer ist da der Respekt vor dem anderen, die Ehrfurcht im hingebenden Schauen. „Frau Matthes“ (1976) aufgerichtet, trotz Altersresignation ganz Würde, Bewahrung des Menschlichen. „Willi Albrecht“ (1977), in die Schattenpartien seines Gesichtes versunken, sich aufgebend. „Die kranke Mutter“ (1977), „Der kranke Vater“ (1983), vom Tode gezeichnet – welch überirdische Stille, welch Schmerz und Ergriffenheit drückt sich hier aus! Der Bildhauer Heinrich Drake (1988), eine Askese der Vergeistigung, das Gesicht wie entmaterialisiert. Der Schauspieler Rolf Hoppe (1989/90), welch Lebensspuren haben sich in das Antlitz eingegraben.
Die Selbstbildnisse von 1975, 1984 und 1988/89, Rechenschaft über sich selbst ablegend, verschlossen, in sich gekehrt, verletzbar, Schatten liegt auf dem Gesicht, der Blick ist nach unten gerichtet. Zweifel und Selbstvergewisserung in einem. Spiel und Gegenspiel, Begegnung und Trennung, Einklang und Dissonanz, all das wird in der fixierten Geste zum Ereignis. Der nervöse Strich, die ruhige, lange Linie, das kraftvolle Verstärken oder verlaufende Erschlaffen kann erschüttern wie beglücken, kann den Betrachter zum Erkennen dessen führen, wozu der Mensch angelegt ist: nämlich wirklich Mensch zu sein, durch Erschütterung wie Beruhigung, Anspannung wie Entspannung eine Balance des Menschlichseins zu erreichen.

Gerhard Kettner – Beim Begehen des Grundes. Zeichnungen. Galerie Pankow, 13187 Berlin, Breite Straße 8, Di–Fr 12–20 Uhr, Sa/So 14–20 Uhr, noch bis 19. Mai. Katalog 25,00 Euro.