von Renate Hoffmann
Zwei Wege führten zu ihr. Insel Hiddensee. Der Friedhof im Ort Kloster. Neben vielen alteingesessenen Inselbewohnern, die hier ihre Ruhe fanden, auch Namenlose, Fremde, Prominente. Unter ihnen der Regisseur Walter Felsenstein, die Tänzerin und Tanzpädagogin Gret Palucca, der Dichter Gerhart Hauptmann. Nördlich der alten Inselkirche steht ein schmaler, hoher Grabstein, spitzgiebelig endend und leicht geneigt, von Alters wegen. Ein zierlich geschwungenes Ornament, in dem die Fantasie erlaubt, ein „S“ zu erkennen. In einfachen Lettern Namen und Jahreszahlen: Hirschberg Sabine 1921–1943. Zwei weitere Vornamen und Daten sind schwierig zu entziffern: Hans … 1968 (?), Erika … 1983 (?). Auf der Informationstafel zu verschiedenen Grabstätten ist zu lesen: „Grabstein von Sabine Hirschberg, Mitglied der Widerstandsgruppe Weiße Rose, verstorben am 19.1.1943“.
Günter Grass: „Ein weites Feld.“ Die Romanfiguren Theo Wuttke, alias Fonty, alias Theodor Fontane und seine Frau Emmi alias Emilie Fontane besuchen die Insel Hiddensee und den alten Friedhof. „[…] Emmi und er folgten den Grabreihen des sanft gewellten Friedhofs, der dem allmählich beginnenden Hügelland zu Füßen liegt. Vorbei an Eibenhecken. Nur wenige, vom Wind geduckte Bäume. Einheimische neben Zugereisten. Emmi hat ihn auf die vielen Gottschalk, Gau, Schluck, Witt, Schlieker und Striesow aufmerksam gemacht. Er wies auf eine schmale, spitz zulaufende Stele und wußte, daß jene zu oberst angeführte Sabine Hirschberg, deren Lebensdaten ihr nur die knappe Spanne von 1921 bis 1943 ließen, zum Widerstandskreis „Weiße Rose“ gehört hatte und sich das Leben nahm, als Verhaftung drohte …“
Eine junge Frau setzt ihr Leben ein, um gegen den Wahnsinn der nationalsozialistischen Ideologie und deren Vertreter ins Feld zu ziehen. Ein weiblicher David vor Goliath. Sie verliert die Schlacht, wie auch ihre Mitstreiter. Ich verneige mich.
Die Suche beginnt. Manche Frage bleibt unbeantwortet oder wandelt sich in Vermutungen. – Sachkundige Institutionen können keine Auskunft geben. Name unbekannt. Er steht im luftleeren Raum. Wer gab den Hinweis zu Sabine Hirschbergs Verbindung zur „Weißen Rose“? In den Kirchenbüchern der Insel findet sich, nach Auskunft des Pastors, kein Eintrag über sie. Woher kam Sabine? Zeitzeugen werden gefunden und öffnen Türen in die Vergangenheit.
Sabine Hirschberg, einzige Tochter aus einer Arztdynastie in Leipzig. Der Vater, Prof. Dr. Hans K. Hirschberg, wird in einschlägigen Verzeichnissen als Facharzt für Chirurgie und Gynäkologie geführt, geboren am 2. August 1892 in Zwickau. Bereits Sabines Großvater Dr. Richard Hirschberg übte diesen Beruf aus. Die Familie hatte ihren Wohnsitz in der Leipziger Gustav-Adolf-Straße Nr. 12. – Sabine, so ist zu erfahren, studierte am Wohnort und in München „Naturwissenschaften“. Wählte sie, der häuslichen Tradition folgend, die Medizinische Fakultät? Wann wechselte sie zur Ludwig-Maximilians-Universität in München? Könnte es zu Beginn der vierziger Jahre geschehen sein? So viele Fragen, so wenig Antworten. Traf Sabine an der dortigen Universität die entscheidenden Kommilitonen, die der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ angehörten? Hans Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst und Willi Graf. Sie waren etwa gleichaltrig mit ihr und hatten im Jahr 1939 – bis auf Willi Graf, der erst 1942 zur Fakultät kam – das Medizinstudium an der LMU aufgenommen.
Sechs aufrüttelnde Flugblätter waren von den Geschwistern Sophie und Hans Scholl und den Mitgliedern des Widerstandskreises gegen Hitler konzipiert, gedruckt und verteilt worden. Im Februar 1943 griff die Gestapo zu und beendete brutal das Leben der jungen Menschen. – Zitate aus den Flugblättern:
„Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique „regieren“ zu lassen.“ (Flugblatt I)
„Man kann sich mit dem Nationalsozialismus geistig nicht auseinandersetzen, weil er ungeistig ist.“ (Flugblatt II)
„Freiheit der Rede, Freiheit der Bekenntnisse, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten, das sind die Grundlagen des neuen Europa.“ (Flugblatt V)
Es wird angenommen, dass Sabine Hirschberg „Handzettel“ und „Aufrufe“ bei sich trug, wenn sie die Eltern in Leipzig besuchte. Die Familie „sympathisierte nicht mit den Nazis“. – Als der „Weißen Rose“ die Gefahr einer Entdeckung drohte, sei Sabine H. „sofort“ ins Elternhaus zurückgekehrt. Dort wählte sie, um möglicher Verhaftung zu entgehen, den Freitod. – Unterlagen, die einen Rückbezug auf Sabines Kontakte zur „staatsgefährlichen“ Gruppe erlaubt hätten, habe man sämtlich beseitigt. Spurentilgung in einer schlimmen Zeit.
Die Stele auf dem Hiddenseer Friedhof mit ihrem Namen. Warum wurde Sabine auf der Insel zur Ruhe gebettet? Wollte man sie aus der Sichtweite nehmen? – Professor Hirschberg besaß in Kloster ein schönes Sommerhaus am jetzigen Biologenweg. Hier hätten sich Eltern, Tochter und die Freunde häufig getroffen und sich sehr wohl gefühlt. Vielleicht sollte nun Sabine Hirschberg auf dem Inselländchen ihren Erinnerungsort an bessere Tage haben.
Mein besonderer Dank für die entscheidenden Hinweise gilt Herrn Volker Hirschberg, München; Frau Brigitte Lindner und Herrn Pastor Dr. Konrad Glöckner, Hiddensee.
Schlagwörter: Antifaschismus, Geschwister Scholl, Hiddensee, Renate Hoffmann, Sabine Hirschberg, Weiße Rose