22. Jahrgang | Nummer 7 | 1. April 2019

Feindbild neu eingepflegt

von Wolfram Adolphi

Wer noch immer Zweifel daran hat, dass China eine Weltmacht ist, dem können sie mit diesem Buch des China- und Asienkenners Theo Sommer endgültig genommen werden. „Die Chinesen kommen? Sie sind schon da!“ steht über der Einleitung, und damit sind die Leser eingestimmt auf eine gut geordnete, ausführliche und flüssig lesbare Darstellung all dessen, was sie spätestens seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts in den Alltagsmedien und einer unübersehbaren Fülle von Zeitschriftenartikeln und Büchern immer wieder zu lesen, zu hören und zu sehen bekommen: über das „Erwachen“ Chinas, seinen „beispiellosen“ Weg zur „wirtschaftlichen Supermacht“, seine „neue Weltpolitik“ und: über die „gefährlichen Spannungsfelder“, die es mit seinem Aufstieg erzeugt.
Sommer geht gleich in die Vollen: Die Menschheit erlebe derzeit den „dramatischsten geopolitischen, geostrategischen und geoökonomischen Wandel seit einem halben Jahrtausend“; es gehe um die „dritte historische Machtverschiebung der neueren Geschichte“. Die erste sei der „Aufstieg Europas“ im Gefolge der Weltfahrten des Kolumbus und des Vasco da Gama gewesen; die zweite habe „Ende des neunzehnten Jahrhunderts“ begonnen, „als die Vereinigten Staaten auf die Weltbühne traten, die sie dann hundert Jahre lang beherrschten“; und nun eben die dritte: „Es wird das chinesische Jahrhundert.“
Solch geballte Ladung macht neugierig auf Schlussfolgerungen. „Wir“ – wer immer das auch sein mag – sollen uns nichts vormachen: „Made in China 2025“ sei „eine Kampfansage an die westlichen Industrienationen, die Bundesrepublik eingeschlossen.“ Und nun? Haben „wir“ Anteil an diesem Jahrhundert oder werden „wir“ sein Opfer sein? Sommer widmet das Buch seinen Enkelkindern, „die das chinesische Jahrhundert erleben werden“. Da entsteht für einen Moment die Hoffnung, er mache Vorschläge, eröffne Perspektiven, die über das im Westen übliche Konfrontative, Feindselige hinausgehen. Jedoch diese Hoffnung zerschlägt sich schnell. Die Anrufung der Enkelkinder stimmt den Autor nicht milde, weitet seinen Blick nicht über den gewohnten Tellerrand hinaus. Der „Kampfansage“ entsprechend, kämpft er in den alten Schemata. Wenn Chinas Staatspräsident Xi Jinping eine – wie Sommer zitiert – „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ aufbauen will, der er „weise Ideen für Problemlösungen“ und eine „Harmonie der Vielfalt“ anbietet, dann denkt Sommer nicht etwa darüber nach, dass es diese Schicksalsgemeinschaft in den Fragen des Klimas, des Ressourcenverbrauchs und auch der Produktivkraftentwicklung, wie sie sich in der Digitalisierung und der Entwicklung künstlicher Intelligenz darstellt, längst gibt und die Zeit überreif ist, über eine menschheitlich gemeinsame Problemlösung und die dafür notwendigen Institutionen wie etwa eine erneuerte UNO nachzudenken, sondern er denunziert das Xi-Programm kurzerhand als Forderung nach „kompromissloser Anerkennung aller chinesischen Positionen“. Die lässt sich zwar nicht beweisen, aber „wir“ müssen uns selbstverständlich dagegen wehren.
Warum heißt das Buch eigentlich „China first“? Ist das zitiert? Stammt das aus chinesischem Mund? Keineswegs. Donald Trump ist es, der die Welt mit seinem „America first“ düpiert hat. Sommer spielt diesen Ball einfach weiter nach Osten. Und stellt fest: „Dass auch andere Staaten Kerninteressen haben, die zu respektieren sind, blendet er gern aus.“ Wer? Xi Jinping natürlich. Nicht Trump. Und natürlich niemand aus der EU. Und schon gar nicht „wir“. Obwohl doch bei „uns“ schon die bloße Vermutung, dass es etwa russische Kerninteressen geben könnte, zu heftiger Aufregung führt.
In der Herausarbeitung der besonderen Gefährlichkeit Chinas gelingen dem Autor einige Kabinettstückchen, von denen eines – aus dem Kapitel „Chinas rote Magnaten“ – zitiert werden soll: „Im Kommunistischen Manifest, das Marx und Engels 1848 veröffentlichten, findet sich die berühmte Passage: ‚Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.‘ Ersetzen wir ‚Bourgeoisie‘ durch ‚Volksrepublik China‘, so haben wir hier die treffendste Beschreibung der Politik des Pekinger Regimes.“ – So ist’s recht: Wo Marx und Engels die Welt im Auge hatten und die global agierende, alle nationalen Schranken niederreißende (und auch das damalige China kriegerisch ihren Interessen unterwerfende) Bourgeoisie, da denkt sich Sommer – obwohl diese Bourgeoisie natürlich weiterhin existiert und sich in ihrer globalen Zusammensetzung heute auch durch chinesisches Zutun stetig verändert – das Ganze in eine nationale Form zurück, erfindet einen chinesischen Goliath und tut so, als stünden dem ein paar arme amerikanische und europäische Davide gegenüber. Zu denen dann wieder auch „wir“ gehören.
Der Kampfmodus lässt Sommer an manchen Stellen regelrecht entgleisen. So etwa, wenn er im Kapitel „Eine prekäre Entente: China und Russland“ einen Ausflug in die Geschichte unternimmt: „Stalin hielt Wort. Am 8. August, zwei Tage nach dem Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima und einen Tag, ehe das nukleare Unheil über Nagasaki hereinbrach, marschierte die Rote Armee, achtzig Divisionen und 1,5 Millionen Mann stark, blitzkriegsartig in Tokios Pseudo-Kaiserreich Mandschukuo ein und überwältigte die japanischen Streitkräfte.“ Blitzkriegsartig. Aha. Mal eben einen vornehmlich im deutschen Faschismus üblichen Begriff auf die Sowjetunion übertragen. Und dann? Zog „das Gros der Roten Armee im Frühjahr 1946“ aus Mandschukuo wieder ab, und „‚sogar die Lichtschalter haben sie herausgerissen‘, erinnerte sich ein US-Offizier – was sehr glaubhaft klingt, denn als die Rote Armee 1994 aus Ostdeutschland abzog, ließ sie aus ihren Kasernen und Zivilunterkünften ebenfalls Türklinken, Wasserhähne und Lampen mitgehen.“
Gut, dass Sommers Enkelkinder das jetzt wissen. Von Zusammenhängen des Weltkriegsverlaufs wie etwa der auf den Antikominternpakt gestützten Aggressorenachse Berlin-Tokio oder näheren Überlegungen zu den weltpolitischen Hintergründen und konkreten Verantwortlichen des „Unheils über Nagasaki“ bleiben sie freilich verschont.
Im letzten Satz dann doch ein Appell: „Das Ziel“ müsse „eine Machtbalance sein, die den Frieden und den Wohlstand aller sichert: Together first.“ Das klingt schön. Aber was „wir“ dazu tun müssen, bleibt im Dunkeln. Und wie soll es auch ins Helle geraten, wenn „unsere“ Beziehungen zu China „ambivalent, prekär und schwierig“ bleiben – aber nicht etwa, weil „wir“ ambivalent, prekär und schwierig sind, sondern „weil China die liberale Weltordnung ausnützt, um seine Entwicklungsziele zu erreichen, aber nicht wirklich daran denkt, sich uneingeschränkt auf deren Werte, Normen und Standards einzulassen.“ Welche „Werte, Normen und Standards“? Und wieso „uneingeschränkt“? – Nein, mit altem Dünkel werden „wir“ im „chinesischen Jahrhundert“ nicht weiterkommen. Neues Denken ist gefragt.

Theo Sommer: China First. Die Welt auf dem Weg ins chinesische Jahrhundert, München 2019, C.H.Beck, 480 Seiten, 26,00 Euro.