von Mathias Iven
Zum 150. Geburtstag von Else Lasker-Schüler am 11. Februar hat Jörg Aufenanger eine unwahrscheinlich lebendig geschriebene Darstellung ihrer fast vier Jahrzehnte umfassenden Berliner Zeit vorgelegt, die vor allem die Dichterin zu Wort kommen lässt.
Sie war gerade fünfundzwanzig, hatte den Arzt Berthold Lasker geheiratet und zog im Sommer 1894 mit ihm von Elberfeld nach Berlin. Eine Wohnung fand das Paar im damals noch jungen Hansa-Viertel. Doch in der Ehe kriselte es von Anbeginn. Bereits 1899, kurz nach der Geburt des Sohnes Paul, trennte man sich. Eine Weile lebte Else Lasker-Schüler in der Neuen Gemeinschaft, einer lebensreformerischen Kommune am Schlachtensee. Doch schon bald erklärte sie ihren Austritt: „Eden war zu klein für mich und nicht das wahre Paradies.“ Im Umfeld der Neuen Gemeinschaft hatte sie den Schriftsteller Georg Lewin kennengelernt. Ende November 1903, kurz nach ihrer Scheidung von Lasker, heirateten sie. Von ihr umgetauft auf den Namen Herwarth Walden, sollte er als Gründer der Zeitschrift Der Sturm in die Literaturgeschichte eingehen.
Bereits 1899 hatte die Zeitschrift Die Gesellschaft ihre ersten Gedichte veröffentlicht, zwei Jahre später erschien „Styx“, der erste Gedichtband – doch davon konnte Lasker-Schüler nicht leben. Um Geld zu verdienen, trat sie in ganz Berlin bei Leseabenden auf. Und nicht nur dort. So kam sie im Oktober 1912 auch nach Elberfeld. Der Rezensent des General Anzeigers fasste den Abend wie folgt zusammen: „Das Publikum war starr vor Staunen, bis es sich der Wirklichkeit erinnerte und kopfschüttelnd, lachend und schwatzend da saß – oder verschwand.“
Wenige Wochen danach wurde auch ihre zweite Ehe geschieden. „Ich habe eingesehen“, schrieb sie rückblickend, „wir sehen und fühlen anders, wir spielen und lieben anders, ich bin Krieger mit dem Herzen, er mit dem Kopf.“ Lasker-Schüler verließ die gemeinsame Wohnung und lebte fortan in möblierten Zimmern, Hotels und Pensionen. Kaffeehäuser wurden ihr zur zweiten Heimat, zur „Heimat auf Verdacht“. Oder wie sie es ausdrückte: „Heimlich halten wir alle das Café für den Teufel, aber ohne den Teufel ist doch nun mal nichts.“ So ging es bis zum Ersten Weltkrieg. Im Juli 1918 bezog sie ein Zimmer im Hotel Koschel in der Motzstraße, bis zum April 1933 wird sie diese Adresse als ihre Berliner Anschrift angeben.
Nach dem Ende des Krieges schien es mit ihrer künstlerischen Karriere bergauf zu gehen. Am 27. April 1919 kam ihr bereits zehn Jahre zuvor im Druck erschienenes Schauspiel „Die Wupper“ im Deutschen Theater zur Uraufführung. Die Elberfelder „Stadtballade mit rauchenden Schornsteinen und Signalen“, wie Lasker-Schüler das Stück umschrieb, begeisterte das Publikum und die Kritiker. Zur selben Zeit entschloss sich der Verleger Paul Cassirer, das Werk Else Lasker-Schülers in einer zehn Bände umfassenden Gesamtausgabe vorzulegen – die Dichterin war auf dem Gipfel ihres Schaffens.
Doch der Ruhm erwies sich als trügerisch. Zwar erschienen in den kommenden fünf Jahren noch Bücher von ihr, doch Lasker-Schülers Produktivität ließ nach. Erst mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus trat sie wieder ins Licht der Öffentlichkeit. 1932 veröffentlichte Rowohlt ihre Erzählung „Arthur Aronymus – die Geschichte meines Vaters“ und S. Fischer druckte das darauf basierende Theaterstück „Arthur Aronymus und seine Väter“. Schließlich wurde sie am 21. November 1932 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. In der Begründung hieß es, in ihren Büchern „finden sich viele Verse, die den ewig gültigen Schöpfungen unserer größten deutschen Meister ebenbürtig sind. In den Dramen gestaltet sie eine in tiefer Verbundenheit zur Heimat geschaute Menschenwelt, die erfüllt ist von Herzlichkeit und gläubiger Güte.“
Nur fünf Monate später, am 19. April 1933, verließ sie Berlin – und kam nie wieder zurück.
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Es war die Hoffnung auf Heilung, die Else Lasker-Schüler mitten im Ersten Weltkrieg von Berlin in die Schweiz reisen lassen hatte. Ihr Sohn Paul war krank und brauchte zugleich Schutz, Schutz vor der Einberufung. Sie hatte gehört, dass ein gewisser Dr. Hans Huber in seinem Sanatorium in Kilchberg bei Zürich Zuflucht bieten würde und junge Männer mit fingierten Attesten vor der Hölle des Krieges bewahren könnte. Am 24. August 1917 wurde Paul Lasker als Patient aufgenommen.
In den kommenden zehn Jahren kamen Mutter und Sohn regelmäßig nach Zürich. Um an das für die Behandlung notwendige Geld zu kommen, trat Lasker-Schüler nicht nur als Vortragende auf, sie knüpfte vor allem ein über die Kulturszene hinausreichendes und für sie ab 1933 lebenswichtig werdendes Netz von Kontakten. Gerade um dieses, in anderen biographischen Arbeiten zumeist ausgeblendete Netzwerk geht es Ute Kröger in ihrem fakten- und spannungsreichen Buch. Mit einem Blick „auf die private und institutionelle, politisch motivierte Flüchtlingshilfe […], die es quer zur in der Tat unmenschlichen offiziellen Flüchtlingspolitik gab“, zeigt Kröger Else Lasker-Schüler als „Symbolfigur der Hilfsbereitschaft“. Wie schon in anderen Publikationen, konnte sie dafür auch diesmal wieder auf zahlreiche bisher unpublizierte und nicht ausgewertete Dokumente zurückgreifen.
Von Unterbrechungen abgesehen, hielt sich Lasker-Schüler fast zwei Jahre in der Nähe ihres Sohnes auf. Neben Hans Huber, der auch während des Zweiten Weltkriegs Exilanten Schutz in seinem Sanatorium bieten wird, lernte sie in dieser Zeit unter anderem den Maler Max Gubler, die Journalisten Max Rychner und Eduard Korrodi sowie den Schriftsteller Carl Seelig kennen. Ende August 1919 gingen sie und ihr Sohn vorerst zurück nach Berlin. Pauls Zustand hatte sich nicht gebessert. Anfang 1926 die Diagnose: Tuberkulose. Es folgten Klinikaufenthalte in Agra, Davos und Zürich. Im Juni 1927 kam Lasker-Schüler erneut nach Zürich: „Es muss“, so entschied sie, „nun Endgültiges geschehen.“ Wenige Wochen später nahm sie Paul mit nach Berlin. Nicht einmal dreißigjährig verstarb er am 14. Dezember 1927.
Sechs Jahre vergingen. Im April 1933 brachte der Zug Lasker-Schüler als Flüchtling nach Zürich, wo sie mit den „Verstörungen des Exils“ konfrontiert wurde: Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit, finanzielle Not und die Sorge um die in der Heimat Zurückgebliebenen. Auch in Zürich bezog sie keine eigene Wohnung. Sie logierte im Hotel „Elite“, im „Glockenhof“ – einem christlichen Hospiz – oder auch im „Augustinerhof“. Tagsüber war sie in den Cafés zu finden. Im „Odeon“ am Bellevueplatz trafen sich die „Refractäre, Revolutionäre, Deserteure“, aber auch die „einheimischen Honoratioren“. Auf der anderen Straßenseite, im „Café Terrasse“, bot sich ein ähnliches Bild. Eher „Aussenseiterische“, weniger Arrivierte trafen sich im „Grand Café des Banques“. Überall suchte Lasker-Schüler Anschluss, vor allem aber Geldgeber – doch mehr als ein „sich-über-Wasser-halten“ war es nicht.
Hinzu kamen Probleme mit der Bürokratie. Am 16. November 1933 wurde sie das erste Mal von der Fremdenpolizei wegen „verspäteter Anmeldung und unerlaubter Erwerbstätigkeit“ vorgeladen. Bis 1936 lag sie – minutiös dokumentiert in den von Ute Kröger erschlossenen Akten – immer wieder im Clinch mit den Behörden. Zumeist ging es um Einreise- und Aufenthaltsbewilligungen oder das ihr auferlegte Arbeitsverbot. Für Else Lasker-Schüler – die, so Emmy Ball-Hennings in ihrem Nachruf, „weltfremder als ein Märchen“ war – waren das Dinge, um die sie sich wenig scherte, und die schließlich von ihren stets hilfsbereiten Freunden und Bekannten geregelt wurden.
Als sich Else Lasker-Schüler im März 1939 auf den Weg nach Palästina machte, ahnte sie nicht, dass sie die Schweiz nicht wiedersehen würde. Die für die Wiedereinreise notwendige Aufenthaltsgenehmigung wurde ihr „aus vorsorglich armenpolizeilichen Gründen. – Überfremdung“ verweigert. Lediglich eine Durchreise gestattete die eidgenössische Fremdenpolizei. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs macht eine Rückkehr schließlich vollends unmöglich. Aus Jerusalem schrieb sie im Dezember 1939 an einen ihrer Schweizer Vertrauten: „I am very allone in my ungemütlich heart.“
Am 22. Januar 1945 starb Else Lasker-Schüler, tags darauf wurde sie auf dem Ölberg bestattet.
Jörg Aufenanger: Else Lasker-Schüler in Berlin, be.bra Verlag, Berlin 2019, 208 Seiten, 20,00 Euro.
Ute Kröger: „Viele sind sehr gut zu mir“. Else Lasker-Schüler in Zürich 1917–1939, Limmat Verlag, Zürich 2018, 267 Seiten, 34,80 Euro.
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