von Erhard Weinholz
Es soll einst sogenannte zerstreute Professoren gegeben haben, die zum Beispiel nicht mehr wussten, dass sie verheiratet waren, ihre Gattin für die Putzfrau hielten und dergleichen. Ich hielt die Spezies für ausgestorben, doch neulich bin ich noch einmal einem begegnet, und zwar in Nr. 1/2019 von Böll, dem Magazin der Heinrich-Böll-Stiftung. Es lag hier an der Straßenbahnhaltestelle, mitgenommen hatte ich es wegen der handschriftlichen Anmerkungen eines erbosten Ostlers. „Tickt der Osten wirklich anders?“ ist nämlich das Thema dieses Heftes.
Schon diese Anmerkungen wären eine Untersuchung wert, und ebenso wäre es das Editorial, das von Ellen Ueberschär stammt, einem der beiden Vorstände dieser Stiftung: Von 30 Jahren Einheit nach 40 Jahren Teilung ist dort gleich im ersten Satz die Rede. Wann die deutsche Nachkriegsteilung begonnen hat, ist schwer zu sagen, jedenfalls nicht erst am 7. Oktober 1949.
Wichtiger ist aber die andere Zahl: 2019 minus 30 ergibt … 1989! Dreißig Jahre Revolution stehen also an! Doch im Editorial heißt es nur, der Osten, das seien Menschen, die durch zwei Diktaturen besonders viel Erfahrung hätten mit einem Leben ohne Rechtsstaat, ohne Meinungsfreiheit, die transformationserprobt sind und so weiter. Dass sie 1989 zu Millionen für Freiheit und Demokratie eingetreten sind, fällt bei dieser Aufzählung unter den Tisch. Und das hängt, so scheint mir, mit der Rede von den zwei Diktaturen zusammen, die die beiden politischen Systeme eben nicht hinreichend erklärt („Was hat Hitler mit Ex-DDR zu tun?“, fragt auch der erboste Ostler). Denn es wird zum Beispiel mit dem Begriff „Diktatur“ nicht erfasst, in welchem Maße sich die, über die man herrschen will, tatsächlich beherrschen lassen. Wenn man beide, die Nazidiktatur und die Diktatur der SED-Parteiführung, in einem Atemzug nennen will, muss man also davon absehen, dass sie auf derart unterschiedliche Weise überwunden wurden. Statt von Revolution spricht man daher lieber ganz allgemein von Transformation.
Es wäre über die Mängel dieses Konzepts noch mancherlei zu sagen. Lässt sich überhaupt auch nur eine der Eigenheiten des Ostens allein aus der Diktaturerfahrung erklären? Aber die Meinungen des erwähnten Professors, so dachte ich, geben vielleicht doch mehr her: Tilman Mayer heißt er, ist Jahrgang 1953, in Bonn als Politologe tätig und streitet in diesem Böll-Heft mit Thomas Oberender, 1966 in Jena geboren und heute Intendant der Berliner Festspiele. Ihr Thema ist die deutsche Einheit; der Ostler kritisiert die Art, wie sie zustande kam, der Westler verteidigt sie und erweist sich dabei als zerstreuter noch als die Professoren von anno dazumal: Er hat sogar vieles von dem vergessen, was er als Fachmann eigentlich wissen müsste. Zum Beispiel, dass mit der Vereinigung nach § 23 des Grundgesetzes die DDR der Bundesrepublik beigetreten ist: „Man kann da doch nicht von einer ,Beitrittserklärung‘ sprechen.“ Nun gut, ist ja auch schon lange her, und den Paragraphen hat man dann gestrichen. Auch ist es für ihn kein Problem, dass man den Palast der Republik abgerissen hat: Es war der „Abriss eines Gebäudes, das symbolisch einen Staat repräsentierte, der seine Bürger/innen unterdrückt hat“. Es gibt also noch viel abzureißen in diesem Land. Dabei müsste doch gerade der Palast Herrn Prof. Mayer heilig sein, denn dort hat sich die Volkskammer im August 1990 für die deutsche Einheit entschieden. Anscheinend hat er auch das vergessen. Oder wirkt hier die gleiche Staatsfixiertheit wie bei der Rede von den zwei Diktaturen? Vertretern dieser Sicht ist nur wichtig, was die Obrigkeit gewollt hat; das Handeln der Gesellschaft interessiert sie nicht.
Zu bedauern ist dieser Abriss insbesondere deshalb, weil damit eine große Chance vertan wurde: Dieser Bau wäre der ideale Ort für eine zentrale Revolutionsschau gewesen, in der man die Ereignisse der Jahre 1848/49, 1918/19 und 1989/90 zusammenhängend hätte darstellen können. Er wäre zugleich ein Ort gewesen, wo Prof. Mayer sein Wissen in mancherlei Hinsicht hätte auffrischen können. So lese ich zum Beispiel bei ihm, „die Bürgerrechtsbewegung“ habe „die Reform, den Aufbruch innerhalb des Systems“ gewollt. Was meint er mit „Reform“? Eine Art Fassadenkosmetik? Und wenn man sich auf den Weg macht, kann man ja wohl nur da aufbrechen, wo man sich gerade befindet. Allerdings wollten die genannten Bewegungen nicht innerhalb dieses Systems bleiben, dessen Hauptelement bekanntlich das Machtmonopol der SED-Führung war; freie Wahlen waren daher eine ihrer Grundforderungen. Prof. Mayer hätte hier aber auch lernen können, dass die Bezeichnung „Bürgerrechtsbewegungen“ dennoch verfehlt ist. Denn ob ich nun die Volksbewegung vom Herbst 1989 insgesamt nehme oder die einzelnen Gruppierungen, die Ziele gingen stets weit über die bloßen Bürgerrechte hinaus, schlossen Ökologisches ebenso ein wie zum Beispiel eine neue Weltordnung. Reduzieren wir sie auf Bürgerrechtsbewegungen, verschwindet das Unerledigte dieser Revolution aus dem Blick: Bürgerrechte haben sie gewollt, Bürgerrechte haben sie bekommen, also alles bestens.
Thomas Oberender hingegen wirft dieser Volksbewegung vor, sie habe bald nur noch den Wohlstandsanschluss gewollt. Der Ärger, der daraus spricht, ist mir vertraut, manches Mal habe ich damals gedacht: Kein Mitleid mit der Arbeiterschaft, das Elend ist selbstverschuldet. Man muss aber auch sehen, dass nicht weniges, das damals dringend anstand und das sich mit dem Begriff „Wohlstand“ gar nicht hinreichend erfassen lässt, die Rettung der zerfallenden Innenstädte zum Beispiel oder der Ersatz hochverschlissener Industrieanlagen, aus eigener Kraft nur ganz allmählich hätte erledigt werden können, selbst wenn man durch Verzicht auf NVA und Stasi und den Wegfall der Besatzungskosten jedes Jahr 15, vielleicht auch 18 Milliarden Mark gespart hätte. Allen war klar: Dieser Weg wird kein leichter sein. Und das wollten sich eben die meisten nicht mehr zumuten.
Von den vielen Themen, die in dieser Revolutionsschau hätten behandelt werden können – Platz wäre ja genug gewesen –, will ich nur eines noch erwähnen: das Märchen vom klitzekleinen Zeitfenster für die deutsche Einheit. Es „stand nur für kurze Zeit offen. Ohne Helmut Kohls entschlossenes Handeln hätte es sich wohl ungenutzt wieder geschlossen“, so Volker Kauder in der Welt vom 28. November 2009. Denn „wenn sich die Mehrheitsverhältnisse in Moskau verschieben“, so las ich anderswo, und die „Kasernentore aufgehen, dann ist es aus“. Jawoll, wenn der Iwan, man kennt den Burschen ja, die Gorbi-Maske fallen lässt und sein wahres Gesicht zeigt, die tückische, schlitzäugige Asiatenfratze, dann … ja dann hätten wir immer noch die gute alte Tante Bundesrepublik mit der Hauptstadt Bonn und unsere schöne DDR mit Sandmann, SERO und Soljanka.
Ein reales Zeitfenster kann aber nur durch reale Ereignisse geschlossen werden, nicht durch angebliche Angstträume, und die deutsche Einheit hätte sich auch mit Boris Jelzin aushandeln lassen. Schon vergessen, Herr Professor, wie die beiden zueinander standen? Doch man kann mit diesem Märchen so gut den großen Kanzler lobpreisen und, wichtiger noch, die Rücksichtslosigkeiten der Einigung rechtfertigen. In dieser Eigenschaft ist es auch Prof. Mayer willkommen. Thomas Oberender bemängelt zum Beispiel den Umgang mit dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches, sein Kontrahent hält dagegen, dass es „keine Zeit für innerdeutsche Diskussionen gab. Als es die außenpolitische Lage zuließ, musste man schauen, die Ernte einzufahren, solange dafür noch die Möglichkeit bestand.“
Aber Prof. Mayer ist natürlich kein Unmensch; auch er ist dafür, dass „wir uns mehr zuhören“, viel öfter Geschichten erzählen. Das liest man schon seit bald drei Jahrzehnten, gebracht hat es meines Erachtens wenig. Denn bestimmend für das öffentliche Geschichtsbild sind nicht die Geschichten, sondern ihre Auslegungen. Und darauf haben Ostler, die ihre eigene Sicht einbringen wollen, kaum noch Einfluss.
Schlagwörter: deutsche Einheit, Diktatur, Erhard Weinholz, Geschichte, Palast der Republik, Thomas Oberender, Tilman Mayer