22. Jahrgang | Sonderausgabe | 25. Februar 2019

„Wer’s nicht ‚recht macht‘, wird fortgeschickt …“

von Mathias Iven

„[…] und wer es wagt, außerhalb des Heiligtums eine Meinung zu haben, wird angegriffen.“ Ja, so ging es im Nietzsche-Archiv vor einhundert Jahren zu. Wer sich gegen die Gralshüterin Elisabeth Förster-Nietzsche stellte, hatte mit Konsequenzen zu rechnen.
Nietzsches Schwester hat „der Nachwelt ein zwiespältiges, stark changierendes Bild ihrer charismatischen Persönlichkeit“ hinterlassen. Da ist zum einen ihre durchaus anzuerkennende Lebensleistung, die in der Gründung des Nietzsche-Archivs bestand. Mit größter Akribie versammelte sie dort die Manuskripte, Briefe, Photographien und Notizbücher ihres Bruders, um sie zukünftigen Generationen zu erhalten. Schon 1901 entwickelte sie gegenüber Harry Graf Kessler ihre Vorstellungen für ein „Neues Weimar“, in dem das Nietzsche-Archiv – ähnlich wie Wagners Villa Wahnfried in Bayreuth – eine zentrale Rolle spielen sollte. Auf der anderen Seite stand ihre Machtbesessenheit. Elisabeth Förster-Nietzsche versuchte „rechthaberisch bis zur Verleumdung“, ihre ausschließliche „Deutungshoheit über Nietzsches Werk und Leben durchzusetzen“. Erklärte sie doch kategorisch: „[N]ur ich weiß ja in dem ganzen Leben meines Bruders genau Bescheid“.
Die literarische Öffentlichkeit wagte nur selten, Kritik an ihr zu äußern. So konnte man in einem im November 1906 veröffentlichten Artikel lesen: „Man könnte einen Verein von Männern gründen, die sich mit Frau Förster entzweit haben und ihre Wege gegangen sind.“ Ihre Position schien unantastbar. Zweifelte man an ihren Aussagen, so bekam man zur Antwort: „Sie können überhaupt annehmen, dass, wenn ich etwas so bestimmt behaupte, ich dann auch in meinem vollen Rechte bin.“ Stets und ständig gerierte sich Förster-Nietzsche als „Märtyrerin der guten Sache“. Zwei Beispiele ihres Verhaltens sollen genügen. Mit ihrem 1905 veröffentlichten Artikel „Nietzsche Legenden“ stellte sich Förster-Nietzsche gegen Lou Andreas-Salomé. Deren ein Jahrzehnt zuvor erschienenes Buch „Friedrich Nietzsche in seinen Werken“ sei nichts weiter als der „Racheakt einer in ihrer Eitelkeit verletzten Frau“. Dem Buch „Über das Pathologische bei Nietzsche“ erteilte sie gleichfalls eine Abfuhr, schließlich sei es so, „daß die ganze vom Herrn Dr. Möbius geschilderte Krankheitsgeschichte auf vollständiger Unwahrheit und Erfindung beruht“.
Bis zu ihrem Lebensende waren die Gerichtssäle „Arenen ihrer Ansprüche“. Angesichts der Bedeutung, die die Prozesse für Elisabeth Förster-Nietzsche unstrittig hatten, verwundert es natürlich, dass bislang keine entsprechende Darstellung vorgelegt wurde. Dem wird mit der von Nils Fiebig vorgelegten Untersuchung abgeholfen. Dass sich, um es vorab zu sagen, ein Nicht-Jurist mit dem Thema beschäftigt, tut der Sache keinerlei Abbruch. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle, so stellt der mit Nietzsches Nachlass bestens vertraute Herausgeber klar, „handelte es sich aus Sicht der Richter um literarische Streitigkeiten und nicht so sehr um die Verfolgung rechtlicher Ansprüche“.
Hier ist nicht der Platz, um auf die Inhalte der einzelnen Prozesse einzugehen. Fiebig, der sich in den letzten Jahren vor allem mit dem Nietzsche-Mäzen Richard M. Meyer befasst hat, hat alles bis ins kleinste Detail aufgearbeitet und dabei ganze Arbeit geleistet: Klagen, Gegenklagen, Schriftsätze der Anwälte, Gerichtsurteile. Doch schon nach wenigen Seiten wird man den Kopf schütteln: so viel Dreistigkeit gepaart mit so viel Einfalt – eigentlich ein Trauerspiel.
Bleibt am Ende die Frage: Wie konnte Elisabeth Förster-Nietzsche ihre Prozesswut überhaupt finanzieren? Einerseits durch die Tantiemen, die ihr durch die Veröffentlichung der Werke ihres Bruders zuflossen. Andererseits gab es immer Mäzene, die ihr unter die Arme griffen. Und mit denen zerstritt man sich besser nicht.

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Der Bestand an authentischen Nietzsche-Bildnissen ist klein und scheint durch die Abbildungen in Büchern oder Zeitschriften bestens bekannt zu sein. Bis heute gibt es jedoch nur wenige Beiträge zu diesem Thema. Jetzt hat der Kunsthistoriker Hansdieter Erbsmehl erstmals nicht nur alle überlieferten fotografischen Nietzsche-Porträts zusammengestellt, sondern ist vor allem deren Entstehungsgeschichte nachgegangen. Herausgekommen ist ein außergewöhnliches Buch!
Nietzsche lag nichts daran, so Erbsmehl, „dass sich seine Leser von ihm ein Bild als Denker, Schriftsteller und Dichter machten“. In einem Zeitraum von einundzwanzig Jahren ließ er sich insgesamt nur neunzehn Mal fotografieren. Ein einziges Bild entstand im Freien, alle anderen in verschiedenen Fotostudios. Die älteste Aufnahme datiert vom März 1861. Als sechzehnjähriger Konfirmand wurde Nietzsche von dem Naumburger Fotografen Gustav Schultze abgelichtet. Im September 1882 suchte Nietzsche erneut dessen Studio auf. Es war das letzte Mal vor seinem Zusammenbruch, dass er sich „bewusst“ vor die Kamera stellte. Eines der vier bei dieser Sitzung entstandenen Bilder wurde im Übrigen zur Grundlage für die erste Veröffentlichung eines fotografischen Nietzsche-Bildnisses. Als Frontispiz mit faksimilierter Unterschrift erschien es in der 1891 publizierten Ausgabe von „Also sprach Zarathustra“.
„Habt Ihr noch eine Photographie von mir?“ ist eine spezielle Art von Biographie: eine Beschreibung von knapp fünfzig Bildern, die zugleich eine Beschreibung von Nietzsches Lebensweg, aber auch von dessen künstlerischem Selbstverständnis liefert. Da die Fotos an verschiedenen Orten gemacht wurden, stellte sich für Erbsmehl jedes Mal aufs Neue die Frage: In welcher Lebenssituation entstand das Bild? Und nicht nur das. Es galt auch zu klären, welchem Zweck es dienen sollte, wie es inszeniert wurde oder für wen es bestimmt war. Aufschlüsse dazu finden sich insbesondere in Nietzsches Briefwechsel. So hat er beispielsweise die am 4. Dezember 1872 in Basel entstandene erste Aufnahme, die ihn als Professor zeigt, in einem Maße kommentiert wie kein anderes Bild.
Bemerkenswert ist, dass sich Nietzsche zu keinem Zeitpunkt seines „bewussten“ Lebens im Kreise seiner Familie fotografieren ließ. Es existieren zwar mehrere Gruppenbilder, dazu zählen die während der Studienzeit in Bonn beziehungsweise Leipzig entstandenen oder auch das bekannte, 1882 in Lugano mit Paul Rée und Lou Andreas-Salomé aufgenommene „Peitschenfoto“, Fotos mit der Mutter oder der Schwester wurden jedoch erst nach dem Zusammenbruch von 1889 „inszeniert“, als Nietzsche keinen Einfluss mehr darauf nehmen konnte. Wichtig für die Dokumentation dieses letzten Lebensabschnitts – als sich Nietzsche, wie gesagt, seiner Identität nicht mehr bewusst war – wurden vor allem die Fotos dreier Künstler: Curt Stoeving, Siegfried Schellbach und Hans Olde. Gerade die Aufnahmen von Olde gelten heute als wichtige Belege für den im Jahre 1900 einsetzenden Nietzsche-Kult.
Man könnte, wie es Erbsmehl tut, natürlich die Frage stellen: Tragen Nietzsches Bildnisse, die ihm selbst „als Medium autobiografischer Reflexion“ dienten, etwas zum Verständnis seiner Philosophie bei? Bekräftigen sie nachträglich, was wir ohnehin längst wissen, dass nämlich alles, was er dachte, was er schrieb, von einem „Pathos der Distanz“ bestimmt war? Man kann das fragen. Man muss es aber nicht.

Niels Fiebig: Der Kampf um Nietzsche. Menschliches, Allzumenschliches von Elisabeth Förster-Nietzsche, Weimarer Verlagsgesellschaft, Wiesbaden 2018, 281 Seiten, 36,00 Euro.
Hansdieter Erbsmehl: „Habt Ihr noch eine Photographie von mir?“ Friedrich Nietzsche in seinen fotografischen Bildnissen, Weimarer Verlagsgesellschaft, Wiesbaden 2017, 294 Seiten, 36,00 Euro.