22. Jahrgang | Sonderausgabe | 25. Februar 2019

Überdehnung des Westens

von Peter Petras

Humanitärer Idealismus steht einer interessengeleiteten Außenpolitik entgegen. So warnt Heinz Theisen: „Solange sich der Westen als universal gültige Kultur versteht, kann er sich prinzipiell nicht begrenzen und solange er seine Einflusssphäre mit der Universalität der Menschenrechte gleichsetzt, droht jedes Problem auf der Welt zu einem Problem des Westens zu werden, ob die mangelnde Autonomie der Tibeter, die Unterdrückung der Frauen Afghanistans, der Landverlust der Palästinenser oder die Sicherheit der Aufständischen in Libyen.“ Theisens Thema ist der Aufruf zur Begrenzung.
Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Seine Kritik der Außenpolitik des Westens und Deutschlands leitet sich von einem konservativen Standpunkt her, der grundsätzlich gegen sozialistische oder links-gutmenschliche Positionen gerichtet ist und sich wesentlich aus der katholischen Soziallehre herleitet. Bereits 2006 hatte er ein Buch zu den „Grenzen Europas“ veröffentlicht und als Fazit formuliert: „Die Grenzen Europas zeigen sich an den Grenzen der Universalisierbarkeit der westlichen Kultur.“ Im Jahre 2012 folgte eine Monographie zur Problematisierung dieser Grenzen: „Nach der Überdehnung“. Nun also ein Band zum Westen in der neuen Weltordnung. Er enthält wichtige Positionen, die für die Kritik westlicher Außenpolitik von Bedeutung sind.
Zunächst kennt sich der Mann auch in philosophischen und theologischen Debatten aus. Wenn im Westen stets über Freiheit im Sinne von politischer und individueller Selbstverantwortung geredet wird, die aus dem christlich-abendländischen, schließlich protestantischen Verständnis kommt, so ist in Rechnung zu stellen, dass Freiheit in der christlich-orthodoxen Welt das „Freisein von Sünde“ ist und in der islamischen Welt die „Hingabe“ und „Unterwerfung“ unter Gottes Willen. Wenn der Westen also von Freiheit trötet, kommt dort etwas ganz anderes an, als hier gemeint wurde.
Das konnte nicht ohne Folgen bleiben. Westliche Intellektuelle meinten, Nationen, Religionen und Kulturen ausreichend dekonstruieren zu können, um dann Demokratie und Freiheit zwangsimportiert implantieren zu können. Clans, Ethnien und Religionen wollten sich aber nicht dekonstruieren lassen, so dass sie dann durch die geöffneten Demokratriefenster wieder hereinschlüpften. Auf dem Balkan, in Montenegro, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo wurden Parteien gegründet, nur um an die EU-Fördergelder zu kommen. „Korruption ist hier nicht eine Abart, sondern die Wesensart des politischen Systems und Bestandteil der Ethik, dem Nächsten seines Clans zu helfen.“ „Government by Corruption“ in Afrika ist so ebenfalls die natürliche Daseinsweise der oktroyierten Demokratie, kein Irrweg zeitweiliger Verirrung. „Der Unterschied von Kooperation und Korruption ergibt sich nicht aus der Staatsform, sondern aus der kulturell definierten Reichweite des Zugehörigkeitsgefühls, ob ich mich nur meiner Familie, meiner Ethnie oder auch meiner Nation oder der gesamten Menschheit verpflichtet fühle. In demokratisierten Clanstrukturen multiplizieren Mehrparteiensysteme die Korruption […].“
Das Hauptproblem des Westens sieht Theisen im „islamistischen Totalitarismus“, der sowohl aus seinem Gottes- als auch aus seinem Menschenbild resultiert. Die „totalitäre Versuchung“ hebt die Trennung von Religion und Politik auf. Hier zitiert er eine aktuelle Studie aus den USA: Muslime treten als friedliebende Minderheit auf, solange ihre Population unter drei Prozent beträgt. Die Islamisierung einer Gesellschaft setzt ein, sobald es genügend Muslime im Land gibt; dann fordern sie religiöse Rechte und Privilegien. Wenn tolerante und sich multireligiös verstehende Gesellschaften diese einräumen, werden immer neue Forderungen erhoben. Zwischen drei und acht Prozent Population beginnt die Missionierung, Adressat sind zunächst die religiös Randständigen, die zu größerem religiösen Eifer angehalten werden. Von acht Prozent an wird die Einführung religiöser Normen zu erzwingen versucht und erwartet, im eigenen Ghetto nach den eigenen Regeln zu leben. Bei einem Anteil über 15 Prozent wird das „eigene Territorium“ verteidigt, die reguläre Polizei und Justiz solle nur noch eine Nebenrolle spielen. Jenseits von 60 Prozent beginnt die Verfolgung religiöser Minderheiten (Stichwort: Verurteilung von Christinnen in Pakistan oder einer Buddhistin in Indonesien), ab 80 Prozent geht dieser Kampf in offenen Djihad über, damit das Land sich auf die „Reinheit“ zubewegt.
Theisen plädiert deshalb dringend für eine „Koexistenz der Kulturen“. Praktisch heißt dies: „Der Westen muss sich damit abfinden, dass Russland und China, Iran und Türkei nicht auf dem Weg zur freiheitlichen Demokratie sind und dass große Teile der islamischen Welt nicht säkular oder liberal sein wollen. Umgekehrt sollten sich diese Mächte damit abfinden, dass die Staaten des Westens säkular und liberal bleiben wollen. Für eine neue Weltordnung brauchen wir daher einen Paradigmenwechsel von der angenommenen Universalität einer spezifischen Ordnung zum Paradigma der Koexistenz von unterschiedlichen Ordnungen.“
Es wäre zu hoffen, dass das außenpolitische Entscheidungspersonal dieses Landes das Buch liest. Aber leider glauben die ja, alles schon zu wissen. Vor allem, wie es mit der deutschen Universalität ist.

Heinz Theisen: Der Westen und die neue Weltordnung, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2017, 181 Seiten, 26,00 Euro.