von Klaus Joachim Herrmann
Für die Frühlingsmonate März bis Mai ist bereits eine Steigerung der Inflation in Russland auf bis zu 5,7 Prozent, danach deren Rückgang auf unter fünf Prozent vom Wirtschaftsministerium vorhergesagt. Was aber wohl Russlands Präsident in seiner Botschaft an das russische Parlament am 20. Februar verkünden werde, mochte er seinen Sprecher eine Woche zuvor nicht verraten lassen. Der offenbarte nicht einmal, an welchem Ort in der Hauptstadt die Föderationsversammlung strategische Linie bekommen und ob das Ereignis direkt übertragen werde. Der prachtvolle Georgensaal des Kreml wird gerade restauriert. Bereits im Vorjahr hatte Wladimir Putin nicht dort, wie es Tradition ist, sondern erstmalig in der nahegelegenen Manege nach einer gut einstündigen innenpolitischen Richtungsweisung auch international mit der überraschenden, auf Videowänden „visualisierten“ Präsentation neuer Waffensysteme für Furore gesorgt. Diesmal ließ er vorab nur durchblicken, dass Anregungen der Diskussion auf einem Wirtschaftsforum in Moskau Anfang des Monats eine Rolle spielen werden – darunter ganz sicher seine eigenen.
Von diesen erregte die Verlängerung der im März 2019 auslaufenden Amnestie für jene Unternehmer etwas Aufsehen, die ihr Kapital im Jahre 2019 aus dem Ausland in die Heimat zurück überweisen. Im Vorjahr brachte die noble Geste nicht ganz so üppige 10 Milliarden Euro, der Ertrag könnte sich aber bis März 2020 mehr als verdoppeln. Doch auch jetzt, argwöhnt die Gasjeta.ru, beeilten sich die russischen Geschäftsleute nicht besonders, ihr Kapital ohne Angst vor Steuern und Strafen zurückzuholen. Das Business in Russland vertraue der Macht nicht, klagte Alexej Antonow, Analytiker von „Alor Broker“. So hänge die Auslegung der Gesetze zur Zahlung oder Befreiung von der Mehrwertsteuer ganz von der subjektiven Meinung der Richter ab. Die Gefahr von mindestens zeitweisen Totalverlusten durch das Einfrieren der Mittel in einem feindlich gesonnenen Westen wächst jedoch. So wird erwartet, dass das die Sehnsucht nach der Heimat deutlich verstärkt. Die vaterländischen Banken bleiben dabei ebenfalls schwer berechenbar. Sie können unter Berufung auf das Gesetz gegen Geldwäsche oder die Finanzierung von Terrorismus Konten durchaus überraschend einfrieren.
Das freilich sollte lediglich eine „äußerste Maßnahme“ sein, zudem sei dieses Problem exakt vor einem Jahr schon einmal besprochen, doch bis heute nicht gelöst worden sei, stöhnte Präsident Putin. Der war eigentlich gekommen, um über die Erfüllung seines Mai-Erlasses durch die Unternehmer zu wachen. Im (Wieder-)Wahljahr 2018 hatte der Präsident für seine vierte Amtszeit unter den Stichworten Reform, Modernisierung und Durchbruch bei der Entwicklung die strategischen Ziele bis 2024 vorgegeben. Danach soll Russland künftig zu den fünf größten Volkswirtschaften der Welt aufsteigen und die Inflation vier Prozent nicht übersteigen – da wird es nach dem Fehlstart 2019 bald den Durchschnitt brauchen. Für die Arbeitsproduktivität ist eine Steigerung um fünf Prozent pro Jahr angewiesen. Insbesondere letztere Forderung dürfte von Putin nach Art der Leninschen „Großen Initiative“ angelegt sein. Denn wie deren Autor Wladimir Iljitsch setzt fast genau ein Jahrhundert später Wladimir Wladimirowitsch auf die Arbeitsproduktivität als „in letzter Instanz das allerwichtigste, das ausschlaggebende“. Wenn diesmal auch nicht mehr für den Sieg des Kommunismus, so aber doch für ein starkes Russland.
Wie in dem historischen, so gibt es im gegenwärtigen Fall substantielle Schwierigkeiten. „Der Rückstand Russlands gegenüber den entwickelten Wirtschaften ist nicht einfach nur chronisch geworden, er verstärkt sich“, analysierte die Njesawissimaja Gasjeta. Die Arbeitsproduktivität müsse jetzt schon um 20 Prozent wachsen, aber nicht nur um die in den Mai-Erlassen versprochenen fünf Prozent, meinte Autorin Anastasia Baschkatowa unter Hinweis auf OECD-Zahlen. Danach habe das mittlere Wachstum der Arbeitsproduktivität in den 36 Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in den sechs Jahren von 2012 bis einschließlich 2017 über zwei Prozent gelegen, verharre in Russland jedoch unter 0,5 Prozent. Werde dieses Tempo beibehalten, seien die für 2024 gesetzten Ziele nicht zu erreichen.
Als einen der wichtigsten Faktoren der niedrigen Arbeitsproduktivität nennen Experten, dass mehr als die Hälfte der Ausrüstungen „hoffnungslos veraltet“ sei. Zudem wäre der Staat nicht in der Lage, meint Tamara Kassjanowa, erste Vizepräsidentin des Klubs der Finanzdirektoren Russlands, ein Mittel zu finden, das die Menschen für die Erhöhung der Arbeitsproduktivität interessieren könne. Besser scheint es in der nach Schätzungen 30 bis 40 Prozent umfassenden Schattenwirtschaft zuzugehen. In den darin tätigen kleinen und mittleren Unternehmen würden die Zahl der Mitarbeiter und die Kosten optimiert, um überleben zu können.
„Wir können das besser“, verspricht nun die Präambel des Wirtschaftsprogramms, auf dem die Mai-Dekrete zum Großteil beruhen. Ausgearbeitet wurde es von dem als liberal geltenden Alexej Kudrin, von 2000 bis 2011 Finanzminister. Er steht für die Konsolidierung der Staatsfinanzen nach den ruinösen 1990er Jahren, überwarf sich mit Premier Dmitri Medwedjew, kam einem Rausschmiss durch Rücktritt zuvor und war später wiederholt für ein Amt in der Regierung, wenn nicht gar des Premiers ins Gespräch. Seit 2016 ist er dem Präsidenten im Wirtschaftsrat dienstbar, seine Agentur für Strategische Initiativen gab diesem als Analyse vor: Wir leben schlechter als wir könnten, die Wirtschaft wächst nicht schnell genug. Benötigt würden klare Ziele und eine Strategie der Entwicklung – ambitiös, klar und erreichbar.
Die Beschleunigung der technologischen Entwicklung Russlands, die Erhöhung der Zahl von Unternehmen im Bereich der innovativen Technologien bis zu 50 Prozent, die Einführung digitaler Technologien, sind Kernpunkte. Russland will einmal mehr seine „Abhängigkeit von der Konjunktur des Erdöls“ verringern. Rohstoffe allerdings bleiben bislang die traditionellen Exportgüter. Zwar freuten sich die Experten Anfang 2019 über die laut Angaben der Zollverwaltung im Vorjahr um 25,6 Prozent gesteigerten Exporte und eine auf fast 212 Milliarden Dollar verbesserte positive Handelsbilanz. Doch blieb es bei der Struktur. Die Ausfuhr von Produkten des Brennstoff- und Energiebereiches stieg von 59 Prozent im Vorjahr auf knapp 64 Prozent 2018, darunter Öl um rund drei, wertmäßig sogar um 32 Prozent. In anderen Bereichen blieb es bei den üblichen Anteilen, bei Maschinen und Ausrüstungen waren dassechs Prozent.
Die kommenden Jahre seien „entscheidend“ für das Land, sagt Kremlchef Putin. Er verlor seit seinem Eintreten für die Rentenreform an Ansehen. Das militärische Engagement in Syrien, die russisch-ukrainische Krise, die Rüstungskonfrontation mit den USA und der NATO sowie westliche Sanktionen, die Probleme der Wirtschaft und deren Auswirkungen auf die Bürger fordern ihren Preis. „Das Wohlergehen Russlands und das Wohlergehen unserer Bürger muss die Grundlage von allem sein, und in diesem Bereich müssen wir einen Durchbruch erreichen“, wendet sich der Präsident demonstrativ der Innenpolitik zu. Die Armutsquote von fast 14 Prozent – also rund 20 Millionen Menschen sind betroffen – soll halbiert werden. Realeinkommen und Renten würden schneller steigen als die Inflation, versprechen die Strategen. Jährlich würden statt vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes künftig fünf Prozent für das Gesundheitswesen ausgegeben. Wie so oft versprochen, müsse jetzt das Wohnungsproblem gelöst werden – jährlich für fünf Millionen Russen. Milliardeninvestitionen gehen bis 2024 in die zwölf nationalen Projekte Demografie, Gesundheitswesen, Bildung, Wohnungsbau, Ökologie, Infrastruktur, Arbeitsproduktivität, Wissenschaft, digitale Wirtschaft, Kultur, kleines und mittleres Unternehmertum sowie Export. Auf der Internetseite der Regierung kann seit Mitte Februar jedermann nachlesen, welcher Bereich wie viel bekommt. Die Regierung versprach eine Reform der Strukturen und Einrichtungen, sie sollten künftig „in vollem Maße“ unternehmerische Initiative gestatten, Einschränkungen auf dem Arbeits- und Kapitalmarkt beseitigen. Das kleine und mittlere Unternehmertum gefördert werden.
Doch wie die großen Reisen, so beginnen große Initiativen auch mit kleinen Schritten. Die Rückkehr von kleinen Läden, Buden und Büdchen an die Straßen der Städte ist seit einigen Tagen Thema in der Staatsduma. Wladimir Gutenjew, Vizechef des Parlamentskomitees für Wirtschaft, Industrie, Innovation und Unternehmertum, verwandte sich persönlich dafür. Die örtlichen Organe sollten „mehr Freiheit“ einräumen, da die großen Handelsnetze ohne Konkurrenz nur ihre Gewinnspannen erhöhen würden. Handelsminister Viktor Jewtuchow winkt mit einem Gesetzentwurf. Doch Blütezeiten der Handelsbuden wie früher soll es nicht geben: Die waren nach den wilden 90er Jahren ohne Erbarmen insbesondere in der Hauptstadt als angebliche Schandflecke abgeräumt worden.
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