22. Jahrgang | Sonderausgabe | 25. Februar 2019

NS-Raubkunst, Novemberrevolution und Dolchstoßlegende

von Wolfgang Brauer

Spätestens mit dem kollektiven Aufschrei der österreichischen Kunstgemeinde über die perfide Wegnahme eines der heiligsten, quasi über Nacht sakrosankt gewordenen Kulturgüter der Alpenrepublik – die Rede ist von der Restitution des Gustav-Klimt-Gemäldes „Adele Bloch-Bauer I“ (1907) an die Erbin Ferdinand Bloch-Bauers, Maria Altmann, im Februar 2006 – ist das Thema „NS-Raubkunst“ wieder in der öffentlichen Debatte der beiden Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“. Auch fast 80 Jahre nach dem Ende des gigantischsten Raubkrieges aller Zeiten ist es für deren tonangebende Eliten, hier dürfen wir getrost die helvetischen Mit-Profiteure an den großdeutschen Plünderungszügen mit einbeziehen, immer noch wie ein schmerzhafter Griff in das Gemächt der nationalen Identität, wenn wieder einmal eine Raubkunst-Affaire an das Licht der Öffentlichkeit gerät. Was bilden diese geldgierigen Juden sich bloß ein? Julius Schoeps und Anna-Dorothea Ludewig benannten ihr Buch über die Problematik „Raubkunst und Restitution“ nicht umsonst „Eine Debatte ohne Ende?“ Das Fragezeichen hätten sie getrost weglassen können. Wo nicht knallharte Belege auf den Tisch gelegt werden, bewegt sich auch im Falle öffentlicher Sammlungen in Sachen Rückgabe nichts; von den Privaten redet – lassen wir einmal den Sonderfall Gurlitt außen vor – sowieso niemand. Die Staatlichen Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin sind eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen. Und die zurückhaltende Floskel „im deutschsprachigen Raum“ im Untertitel hätten sich Schoeps und Ludewig auch klemmen können: Es geht immer noch um zigtausende Kunstwerke, die sich in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und in der Schweiz und nirgendwo anders befinden. Der Zeigefinger in Richtung Eremitage oder Puschkin-Museum ist da lediglich ein gern benutztes Ablenkungsmanöver von den Leichen im eigenen Keller.
Der Wiener Publizist Burkart List hat jetzt ein Buch vorgelegt, in dem er minutiös einen der großen Raubkunstskandale der Kriegs- und Nachkriegszeit und den damit zusammenhängenden, durchaus erfolgreichen Vertuschungsversuch um die tatsächliche Täterschaft und deren Haftbarmachung schildert. Es geht um das Schicksal der bedeutenden Kunstsammlung des ungarisch-jüdischen „Zuckerbarons“ Ferenc Hatvany, die nach einigen Angaben bis zu 800 Bilder umfasst haben soll. Allein im Budapester Palais des Barons sollen sich nach einer Aussage des seinerzeitigen Leiters des französischen Kulturinstitutes in Ungarn François Gachot 250 bis 260 Bilder befunden haben. Hatvany hatte kenntnisreich und systematisch gesammelt: Von Corot über Monet, Degas, Sisley, Pissarro, Renoir, Courbet, Ingres bis hin zu Vuillard und Pascin reichte der Bogen der in Budapest deponierten Sammlung. Die Mehrzahl der Bilder ist bis heute verschwunden. Einige tauchten in der Sowjetunion auf, einige im internationalen Kunsthandel. Und hier knüpft List an. 2004 tauchte ein El-Greco-Gemälde aus der Sammlung Hatvany, „Berg Sinai“ (1570/1572), in New York auf. Nachweislich wurde es wie die meisten anderen Hatvany-Bilder von der SS geraubt. List weist nach, dass hinter dem Verkauf viele Jahre nach Kriegsende ein Netzwerk der seinerzeitigen Granden der Plünderungskommandos des Reichssicherheitshauptamtes stand, das wiederum nur überleben konnte, weil es sich der Protektion und Mittäterschaft der berühmten „höchsten Kreise“ in Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik und Österreichs sicher sein durfte. Diese Leute waren es auch, die 1964 den jüdischen „Wiedergutmachungsanwalt“ Hans Deutsch mit einem auf dubiose Weise zusammengezimmerten Betrugsvorwurf zur Strecke brachten. Der Autor rekonstruiert diese „Affäre Deutsch“ detailgenau und kommt zu dem vernichtenden Schluss, dass der deutsche Staatsapparat „ein veritables Staatsverbrechen“ begangen habe, nicht zuletzt „um der Bundesrepublik Deutschland Milliarden zu ersparen“. List meint damit die im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Hans Deutsch klammheimlich erfolgte „Liquidierung der individuellen Wiedergutmachung“, also der direkten Wiedergutmachungszahlungen an die Überlebenden beziehungsweise deren Erben. Leider erstickt das Buch stellenweise an der Fülle verwaltungsjuristischer Details. Und leider kann sich der Autor diverse Schatzsucherspekulationen nach dem gehabten Motto „das Bernsteinzimmer ist noch immer im Erzgebirge“ nicht verkneifen. Das mindert den Wert des Buches mitnichten. Burkart List hat Netzwerke aufgedeckt, die bis auf den heutigen Tag funktionieren und dafür sorgen, dass ein Ende dieser Geschichte noch lange nicht in Sicht ist. Folgt man dem Verlagshinweis, das Listsche Buch in einem Zusammenhang mit den NSU-Vertuschungen zu denken, wird es richtig gruselig.

Burkart List: Die Affäre Deutsch. Braune Netzwerke hinter dem größten Raubkunst-Skandal, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2018, 496 Seiten, 29,00 Euro.

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In den letzten Wochen erschien eine Vielzahl von Büchern, die sich mit der deutschen Novemberrevolution, ihren Ursachen, ihrem Verlauf, ihrem (je nach Autorenstandpunkt) tragischen Scheitern und ihrem Nachwirken auseinandersetzen. Was häufig nicht beachtet wird: Ohne einen genaueren Blick auf das Agieren der Eliten des Kaiserreiches ist das Alles nicht zu verstehen. Lenin wusste das: Eine „revolutionäre Situation“ bedürfe auch der „Unmöglichkeit für die herrschenden Klassen, ihre Herrschaft in unveränderter Form aufrechtzuerhalten“ (Der Zusammenbruch der II. Internationale, 1915). Linke Analysten ignorieren das gerne. Der Bremer Historiker Lothar Machtan hat ebendiesen Blick versucht und schildert in seinem Buch „Kaisersturz“ den großen Beitrag, den Seine Majestät Wilhelm II. samt Familie höchstderoselbst zum eigenen Sturze geleistet haben. Er führt die abenteuerliche Politik der Obersten Heeresleistung vor und erzählt vom geradezu grotesken Rettungsversuch der Monarchie durch den eigentlich von keinem so richtig gewollten badischen Prinzen Max. Von keinem? Doch, von einem: Friedrich Ebert. Das zwischen dem SPD-Chef und dem verhinderten Möchtegern-Ersatzkaiser Max von Baden geschmiedete Bündnis mag ja noch so operettenhafte Züge gehabt haben – schlussendlich führte es zu einem ganz anders gearteten Bündnis, dem zwischen Ebert und dem General Wilhelm Groener, seit dem 26. Oktober 1918 Nachfolger des noch vom Kaiser geschassten Erich Ludendorff. Das war nun gar nicht mehr operettenhaft, sondern erfuhr seine blutige Krönung in den Berliner Märzmassakern des Jahres 1919. Selten las ich eine so spannend geschriebene „Geschichte von oben“, wie den von Lothar Machtan vorgeführten Blick hinter die Paravents und Küchengardinen der Macht.
Zu einer Blickschärfung auf die Ereignisse des Jahres 1918 kann auch ein Büchlein von Gerhard P. Groß beitragen, der in der bei Reclam erscheinenden Reihe „Kriege der Moderne“ des Potsdamer Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften das Ende des Ersten Weltkrieges und die Dolchstoßlegende analysiert. Es ist wohl nur wenigen bewusst, dass bereits die im März und April scheinbar durchaus erfolgreiche Frühjahrsoffensive des deutschen Heeres an der Westfront genaugenommen schon vor dem ersten Sturmangriff auf die Stellungen der Briten und Franzosen gescheitert war. Das Ende bedeutete schließlich der alliierte Durchbruch von Amiens am 8. August 1918. Die militärische Niederlage war eine militärische Niederlage. Nicht mehr und nicht weniger. Das Reich war am Ende seiner Kraft, an allen Fronten brachen die Verbündeten zusammen. Hindenburg, Ludendorff und ihr Kaiser wollten zwar bis in den September hinein ihre Niederlage nicht eingestehen – ein „Siegfrieden“ hatte aber angesichts des immer schwerer wiegenden Eingreifens der Vereinigten Staaten keinerlei Chance mehr. Groß demaskiert in seinem Buch das angebliche militärische Genie Ludendorff vollständig. Das sollte man gelesen haben. Mit seiner Darstellung der Geschichte der Dolchstoßlegende bietet er wenig Neues, weist aber auf ein inzwischen fast völlig verdrängtes Faktum ihrer Langzeitwirkung hin: Neben einer geradezu konstituierenden Rolle bei der Etablierung der Nazidiktatur trug sie nicht unwesentlich zum politischen Versagen des deutschen Offizierskorps im Umfeld des 20. Juli 1944 bei. In etlichen der von ehemaligen Wehrmachts-Offizieren verfassten Memoiren-Bände des DDR-Verlages der Nation war Letzteres auch nachlesbar. Aber wer liest die heute noch …
Geradezu paradox ist in diesem Zusammenhang, dass ausgerechnet Friedrich Ebert, der 1925 selbst zum Opfer der Dolchstoßlegende werden sollte, sie am 10. Dezember bei seiner Begrüßungsansprache für die heimkehrenden Truppen am Brandenburger Tor in Berlin mit auf den Weg brachte: „Kein Feind hat euch überwunden! Erst als die Übermacht der Gegner an Menschen und Material immer drückender wurde, haben wir den Kampf aufgegeben.“ Die von Gerhard P. Groß dargebotenen militärhistorischen Fakten widersprechen Ebert nachdrücklich.

Lothar Machtan: Kaiserstolz. Vom Scheitern im Herzen der Macht 1918, wbg Theiss, Darmstadt 2018, 352 Seiten, 24,00 Euro.
Gerhard P. Groß: Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Dolchstoßlegende, Reclam, Stuttgart 2018, 156 Seiten, 14,95 Euro.