22. Jahrgang | Sonderausgabe | 25. Februar 2019

Heimliche Biere in der Sowjetunion

von Thomas Behlert

Da hält man das neue Buch von Jens Siegert in der Hand und kann sich plötzlich wieder an eine wilde Zeit im Sozialismus erinnern. Vom Kapitalismus fast verdrängt kommen Dinge zurück ins Gedächtnis, die ganz tief im Herzen lagen und vielleicht erst am Todestag am inneren Auge vorbei gezogen wären. Siegert, der seit 1993 in Moskau arbeitet, dort die Heinrich-Böll-Stiftung leitet und im Russland-blog tiefe Einblicke in das russische Land, in dessen Seele, gewährt. Da es mittlerweile jede Menge Bücher gibt, die sich mit 111 Gründen beschäftigen, hat Siegert diese genommen, um die Liebe zu Russland zu beschreiben. Der Untertitel lässt nichts Falsches aufkommen, denn da heißt es sehr richtig: „Eine Liebeserklärung an das schönste Land der Welt.“
Zurück zu meiner Verbindung: Nach dem Abitur wollten mein Freund R. und ich etwas ganz Besonderes machen, nicht einfach nur an die Ostsee trampen oder am Balaton mit wenig Forint die kleine Sau raus lassen und die Wessis wieder richtig ausnutzen, was aber eine andere Geschichte ist. Unser Ziel sollte die Sowjetunion sein, das dortige Schwarze Meer. Palmen angucken, mit russischen Mädchen flirten und heimlich Bier und Schnaps in tiefer Nacht am Strand trinken. Doch wie dorthin kommen? Obwohl die SU unser sozialistischer Bruder war und wir in der Schule nur Gutes über ihn hörten, wurden individuelle Reisen fast nie genehmigt. Man brauchte eine Einladung.
Gut, dass der russische Brieffreund in Rostow am Don wohnte und uns bereits öfters einlud. Mit der nächsten Einladung, die sogar ziemlich offiziell aussah (Stempel mit Hammer und Sichel kamen immer gut) gingen wir zu den verantwortlichen Organen, um die nötigen Papiere zu beantragen. Keiner der Schreibtischtäter konnte richtig russisch und wollte es nicht zugeben. Stempel auf wichtige Papiere wurden so zur Formsache. Flüge von Berlin nach Rostow über Moskau (und zurück) besorgte uns eine Freundin von Ralf, und Rubel tauschten wir mit einem gerade in der DDR weilenden Trassenbauer, der zu meiner Mutter in die Zahnarztpraxis wollte. Es wurde Anfang Juli und die verrückte Reise in die UdSSR konnte beginnen. Nach ungezählten Flugstunden, mit Schulrussisch in Moskau durchfragen und mehreren Zwischenstationen landeten wir auf dem Flughafen in Rostow am Don und Akim wartete! Er hatte einen Moskwitsch organisiert, mit dem die Reise durch das weite Land nach Sotschi, Noworossijsk und schließlich Pizunda gefahren werden sollte.
Auf der Reise führte uns Akim zu Feiern auf riesigen Kolchosen, zu einer herrlichen Hochzeit in Sotschi und zu Rockkonzerten mit russischen Kapellen. Irgendwann trafen wir auf Ropasa (rosa Prinzessin) und Natascha und bezogen ein kleines Zimmer am Schwarzen Meer. Woher kannte Akim die eigentlich schon wieder? Sonne, Palmen, schneebedeckte Berge, von freundlichen Einwohnern, die uns Deutsche zum Schnapstrinken einluden, überreiche Speisen (immer wieder alles aus Roter Bete, Suppen, Gebackenes, Fisch), schmusen bei Meeresrauschen und in der Ferne angestimmten Balalaika-Klängen machten die Wochen unvergesslich. Es war alles echt und wir zwei kleine Ostdeutsche mittendrin. Dies und noch viel mehr fiel mir nun beim Studieren der 111 Gründe ein.
Siegert räumt mit Vorurteilen auf, schildert besondere russische Unarten, kommt auf den Alltag und die Feiertage zu sprechen, macht vor der Politik nicht halt und erzählt, was Leib und Seele zusammen hält. Es ist ein herrliches Buch geworden, das nicht nur die Russlandliebhaber lesen sollten, sondern vor allem die Menschen, die das große Land an den Pranger stellen und es am liebsten kaputt sehen wollen. Seit der Lektüre beschäftige ich mich wieder mit Russland, mache Reisepläne, denn es gilt sich noch St. Petersburg anzusehen, in Sibirien zu wandern, den Ural zu überfliegen, im Solowki-Kloster die leidvolle Geschichte der Insel zu erfahren und auf dem Baikalsee zu schippern. Vielleicht will Freund R. wieder mit, auch wenn wir nicht mehr die Jüngsten sind und lange nichts mehr von Ropasa und Akim gehört haben. Lasst mich jetzt die Tränen der Erinnerung, des Glückes abtrocknen.
Ach, was für ein schönes Buch.

Jens Siegert: 111 Gründe, Russland zu lieben, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2018, 312 Seiten, 14,99 Euro.