von Klaus Joachim Herrmann
„Die Kurilen sind Russland“, kündet ein selbstgemaltes Plakat. Auf dem Moskauer Suworowplatz sind sich an diesem Wintersonntag Mitte Januar hunderte Menschen in ihrem Protest einig – von links über patriotisch bis kommunistisch und monarchistisch. Priester Wsjewolod Tschaplin beschwört die Kurilen als russisches Gebiet von alters her.
In der Menge haben die Reporter der Nowaja Gasjeta neben Anhängern der „Linken Front“, der „Partei der Aktion“ oder „Anderes Russland“ auch Aktivisten ausgemacht, die sich „für den Schutz der russischsprachigen Bevölkerung der Ostukraine eingesetzt haben“. So Igor Strelkow, früherer starker Mann und „Verteidigungsminister“ der „Donezker Volksrepublik“. Der droht unverhohlen: „Wenn die Regierung entscheidet, zwei oder auch nur ein Stückchen der Kurileninseln zu übergeben, werden wir vor keinerlei Aktionen Halt machen – gesetzlich oder ungesetzlich.“ Unversöhnlich die Losungen: „Krim – unser, Kurilen unsere!“ oder gar „Hokkaido – russische Insel“. Der bei deutschen Linken als reformmarxistischer Theoretiker geschätzte Politologe Boris Kagarlitzki steuert bei, dass die Kurilen der äußerste Rand Russlands seien und auch die „Grenze der Geduld des russischen Volkes“. In dem von ihm als Chefredakteur geführten Journal Rabkor wird er dann die Kurilen als „Gegenteil der Krim“ beklagen – statt Patriotismus und einem Vorgehen im nationalen Interesse demonstriere die Führung nunmehr Prinzipienlosigkeit und dass sie sich nur für Geld interessiere.
Von Geld war allerdings beim Januartreffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin und des japanischen Premiers Shinzo Abe nicht erkennbar die Rede, schon gar nicht mehr von einer raschen Lösung für die unwirtlichen und gerade einmal von rund 19.000 Menschen bewohnten vulkanischen Eilande im Pazifik. Nach einem über sieben Jahrzehnte währenden Streit, mehr als zwei Dutzend Spitzentreffen allein in den vergangenen sechs Jahren, diesem Gipfel am 22. Januar und wohl auch dem für Februar angekündigten Treffen der Außenminister bleibt ein Friedensvertrag offenbar fernerer Zukunft vorbehalten.
Ein solches Abkommen nämlich ist nach nur schwer verrückbarer japanischer Auffassung von der vorherigen Lösung der Kurilenfrage, ihrer „Nördlichen Territorien“, abhängig. Die vier südlichen Inseln des Archipels wurden zum Ende des Zweiten Weltkrieges von der siegreichen Sowjetunion besetzt. Sie fielen nach deren Untergang an Russland als Rechtsnachfolger. Einen territorialen Anspruch Japans weist Moskau jedoch zurück. „Souveränität über die Inseln steht nicht zur Diskussion, das ist russisches Hoheitsgebiet“, bekräftigt Russlands Außenminister Sergej Lawrow. Japan müsse diese Inseln als russisch anerkennen, dann erst sei Moskau gewillt, an einer Friedenslösung zu arbeiten. Diese grundsätzliche Voraussetzung spiegele sich in einer gemeinsamen Erklärung Japans und der Sowjetunion aus dem Jahr 1956 wider.
Damals wurde vereinbart, dass im Falle eines Friedensvertrages die UdSSR mit den an Hokkaido grenzenden Shikotan und Habomai zwei der vier Inseln an Japan zurückübertragen werde. Nicht verraucht ist jedoch der Zorn des damaligen sowjetischen Parteichefs Nikita Chrustschow und seiner Nachfolger im Kreml über den Abschluss eines Vertrages zwischen den USA und Japan, der die Nutzung japanischen Territoriums zu militärischen Zwecken einschließt. So erinnert das Portal Regnum heute an ein Aide-Mémoire der Sowjetregierung vom 27. Januar 1960. Darin wird Tokio erinnert, dass „nur unter der Bedingung des Abzuges aller ausländischen Streitkräfte vom Territorium Japans und der Unterzeichnung eines Friedensvertrages mit der UdSSR und Japan“ die beiden Inseln übergeben würden. Geist und Buchstaben der Deklaration von 1956 widerspreche jedoch der Vertrag mit den USA. In dessen Artikel 6 seien ausländische Militärstützpunkte und die Anwesenheit von Land-, Luft- und Seestreitkräften auf japanischem Territorium gestattet worden. Dies habe die Lage in Fernost und in der pazifischen Region, insbesondere die Interessen Russlands und Chinas, „nachhaltig berührt“. Den Kompromiss von 1956 hätte Japan schon längst „durchgestrichen und annulliert“, meinen nicht nur russische Experten.
In den Augen Moskaus sei die Frage nach dem Besitz der Inseln seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelöst, merkte die Iswestija am Rande des Abe-Besuches an. „Gesprochen werden kann nur noch über bestimmte Bedingungen, einschließlich der gemeinsamen Nutzung bestimmter Gebiete – vorausgesetzt, dass die russische Souveränität erhalten bleibt.“ In der Tat wies Moskau bereits 1960 jeden Anspruch Japans auf die „Nördlichen Territorien“ zwischen der russischen Halbinsel Kamtschatka und der japanischen Insel Hokkaido zurück. Die territoriale Frage sei also „entschieden und in den entsprechenden internationalen Vereinbarungen festgeschrieben, die erfüllt werden müssen“. Verärgert über die Neujahrsansprache des Premiers Abe, der den Russen auf den Kurilen eine Änderung „der Souveränität über ihre Gebiete“ ankündigte, bekräftigte Lawrow, Japan solle aufhören, die Inseln in amtlichen Dokumenten „Nördliche Territorien“ zu nennen. Tokios militärische Allianz mit den USA nennt er „problematisch“. Der Kreml werde wahrscheinlich auf zwei grundsätzlichen Forderungen bestehen, heißt es in russischen Medienberichten. So soll einerseits mit der Übergabe der zwei Inseln ein Schlusspunkt unter den Jahrzehnte dauernden Streit gesetzt werden und Japan für alle Zeit auf territoriale Forderungen verzichten. Zudem solle Tokio gewährleisten, dass auf den beiden Inseln keine US-amerikanischen Militärbasen eingerichtet werden.
Bislang erweist sich für Japan immer noch jeder Versuch einer Rückholung von Kurileninseln als Fehlgriff. Diese Angelegenheit will viel Weile und mehr als das haben. Dabei hatte Kremlchef Putin schon in seiner ersten Amtszeit, die er im Jahre 2000 antrat, seine Bereitschaft zu einer Lösung erklärt. Im September 2018 überraschte er auf einem Wirtschaftsforum im fernöstlichen Wladiwostok, an dem auch der japanische Premier teilnahm, mit diesem Angebot: „Lasst uns bis Ende des Jahres einen Friedensvertrag ohne jede Vorbedingungen abschließen.“ Auf dem ASEAN-Gipfel in Singapur versicherten Putin und Abe, sie wollten den Abschluss eines Friedensvertrages vorantreiben und die Inselfrage lösen. Das Jahr 2018 verging jedoch ohne einen solchen Vertragsabschluss, die Aussichten 2019 bleiben vage.
Die Lösung des Jahrzehnte schwelenden Konflikts „wird nicht einfach, aber wir müssen es angehen“, meint der japanische Regierungschef. Sein Gesprächspartner im Kreml mag auf verbesserte Wirtschaftsbeziehungen in Fernost setzen, verweist inzwischen jedoch höflich abwiegelnd auf einige „Detailarbeit“, um ein für beide Seiten akzeptables Abkommen zu erreichen. Zu Beginn dieses Jahres 2019 habe Russlands Präsident sogar zu verstehen gegeben, er sei derzeit überhaupt nicht bereit, über eine solche Übergabe von Kurileninseln zu sprechen, analysierte die Zeitschrift Kommersant. Es könne nur über einen Friedensvertrag verhandelt werden. Putin stellt nach seinem Popularitätseinbruch wegen der Rentenreform offenbar stärker die Meinung der Gegner einer Übereinkunft mit Tokio in Rechnung. Diese verweisen auf eine vorgebliche Mehrheit von 77 bis 90 Prozent der Bürger Russlands, die eine Übergabe der Kurilen „kategorisch ablehnen“ würden. Für diese russische Erde hätten Väter und Großväter ihr Blut vergossen und das Leben gelassen.
So klingt es alles andere als ermutigend, wenn Putin seinen Gesprächspartner darauf hinweist, dass es wegen der Inseln ohnehin eines Referendums bedürfe. Dessen Ausgang sei in Russland „mehr oder weniger vorhersehbar“. In die Debatte zurückgekehrt ist dieser Satz des langjährigen sowjetischen Außenministers und späteren Staatschefs Andrej Gromyko: „Unser Land ist groß, aber überflüssige Erde gibt es nicht.“
Schlagwörter: Friedensvertrag, Japan, Klaus Joachim Herrmann, Kurilen, Russland