22. Jahrgang | Nummer 2 | 21. Januar 2019

Zwischen Dammbruch und Kammerspiel

von Joachim Lange

Die Wiener Opernszene ist noch für Überraschungen gut – die Wiener Staatsoper glänzt das erste Mal nach Aribert Reimanns „Medea“ wieder mit einer Uraufführung: „Die Weiden“ von Johannes Maria Staud. Das Libretto stammt von Durs Grünbein, die Inszenierung von Andrea Moses.
An dem sonst fürs Innovative „zuständige“ Theater an der Wien machte Christof Loy aus Carl Maria von Webers „Euryanthe“ ein subtiles Kammerspiel.

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„Donau so blau“ – so walzert es ganz von selbst, wenn man an Wien denkt. „Dorma so braun“ – hört und sieht man jetzt in der Wiener Staatsoper. Nach acht Jahren hat das Haus, an dem täglich (!) gespielt wird, mit „Die Weiden“ endlich wieder mal eine Uraufführung zu vermelden. Eine, die es in sich hat. Nicht nur, weil zeitgenössische Musik mit ihrem Streben nach Originalität eine besondere Herausforderung ist. Es gibt abgehobenere Klangsprachen als die von Johannes Maria Staud. Aber schon lange hat sich keine Opernnovität so direkt dem politischen Diskurs der Gegenwart gestellt. Mitten in der Hauptstadt des schwarz-blau regierten Österreich werden hier die eigene Erinnerungskultur und die Ressentiments gegen Fremde schürende Heimatrhetorik der Rechtspopulisten auf der Bühne verhandelt. Nicht als plattes Agitprop-Theater, aber doch so deutlich, dass man es nicht überhören kann.
Die Inszenierung von Andrea Moses findet überwiegend klare, sinnliche Bilder. Wie Jan Pappelbaum (Bühne), Kathrin Platz (Kostüme) und Arian Andiel (Video) die projizierten Flusslandschaften hinter den beiden Insel-Drehscheiben – mit den abgestorbenen Weiden, dem schwebenden roten Kanu für die Flussfahrt –, aber auch die Tafel bei Peters Eltern, die Demagogenrede auf dem Dorfmarktplatz oder die am Ende einsetzende Naturkatastrophe zu einer Bühnenästhetik aus schnell wechselnden Bildern formen, das ist überzeugend und prägt sich ein.
Das Stück beginnt in New York bei Leas Eltern. Die junge Philosophin und Tochter jüdischer Eltern bricht von hier zu einer Reise in die frühere Heimat ihrer Vorfahren auf und unternimmt mit ihrem Liebhaber Peter eine Bootsfahrt in dessen Heimat. Bis zu seinen Eltern. Wo zum Dessert Waffen verteilt werden, was in Österreich ein Fingerzeig auf Elfriede Jelineks erinnerndes „Rechnitz“-Stück ist.
Die jungen Leute treffen bei ihrer Fahrt dorthin auf ein Hochzeitspaar und auf den Komponisten Krachmayer: Udo Samel, ein Guru mit langen weißen Haaren. Seine demonstrative Vorliebe für Richard Wagner gilt nicht nur dessen Opern, sondern ebenso dessen Schrift übers Judenthum in der Musik …
Librettist Durs Grünbein hat in der Eingangsszene in New York die Geschichte der Judenverfolgung und des Holocaust in einen (flott swingenden) Song von den Karpfenmenschen gegossen. Genau diese Karpfenköpfe sieht Lea irgendwann auf den Schultern von Peters Leuten, wie sie ihre Mäuler bewegen. Bei seiner Familie und vor allem bei jener Versammlung auf dem idyllischen Marktplatz eines Postkartendorfes irgendwo in der Nähe der östlichen Grenze, auf dem ein Bierzeltdemagoge eine kernige Rede hält, wie sie heute nicht nur in dieser Gegend gehalten werden.
Was sonst als Fallhöhe daher kommt, könnte man hier eher Tauchtiefe nennen. In den metaphorischen Fluss Dorma, der nicht zufällig nach Donau klingt. Gebrochen wird die Geschichte noch durch eine Fernsehreporterin (Sylvie Rohrer) und ihr Team, die von der großen Überschwemmung des Flusses berichten, die die realen und metaphorischen Dämme brechen lässt. Und von den zwei Paaren, die vermisst werden.
Das Verhältnis aus realer Geschichte und tieferer Bedeutung gerät gegen Ende allerdings etwas aus der Balance. Grünbein ist halt in erster Linie ein Dichter und Poet und erst danach Librettist. Zum Schluss geht nicht nur das Hochzeitspaar unter, sondern auch Peter wird von einer Flut mitgerissen. Aber nicht von strömendem Wasser, sondern von entschlossen marschierenden, schwarz gekleideten Männern … Lea aber begegnet mit dem Zug der Deportierten der Vergangenheit, ihren Vorfahren und damit sich selbst.
Staud passt die Musik in den Rezitativen eng an das gesprochene Wort an. Vor allem in den Zwischenspielen gelingt atmosphärische Dichte. Der Komponist zitiert aber auch ganz direkt Wagners Meistersinger- und Tristanmusik.
Am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper spielt Ingo Metzmacher seine große Affinität zur Moderne voll aus. Exzellent gelingt die Anreicherung des Orchesterklangs mit Atem- und Hauchgeräuschen, verfremdetem Plätschern und Zwitschern sowie mit elektronischen Klangzugaben, die vom SWR Experimentalstudio beigesteuert werden.
Rachel Frenkel ist eine, wenn auch eindimensionale, so doch intensive Lea. Herausragend in seiner vitalen Präsenz der Peter von Tomasz Konieczny.

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Im Stagione-Opernhaus Wiens das Kontrastprogramm: Carl Maria von Webers „Euryanthe“ (1823). Constantin Trinks hält mit dem Radiosymphonie-Orchester Wien durchweg die Spannung, liefert sowohl den romantischen Klangrausch und Webers erkennbaren Ehrgeiz, auch neue Wege zu gehen. Er macht das aber so, dass die Vergegenwärtigung, die die Regie zelebriert, durchweg beglaubigt wird.
Die Librettistin Helmina de Chézy hat nicht nur gefühlig gereimt. Sie ist auch ziemlich weit vom Pfad einer klar erzählten Geschichte abgekommen. Regisseur Christof Loy ist es gelungen, so sensibel und klug zu straffen, obendrein so typgerecht zu besetzen, dass ein Parodieverdacht nicht aufkommt. Zusammen mit Johannes Leiacker (Bühne) und Judith Weihrauch (Kostüme) verlegt er die Oper in einen ästhetischen Ballsaal mit Oberlicht und großen Fenstern für atmosphärische Lichtwechsel. Der Raum ist hochästhetisch, die Kostüme noch mehr! In Zeiten dominierender Secondhand-Vorlieben ist die hier ausgestellten Eleganz der Wirtschaftswunderjahre eine Augenweide. Dass die entsprechend gekleideten Herren der Ballgesellschaft auch in diesen Zeiten noch auf eine Frau, die öffentlich eines Treubruchs bezichtigt wird, losgehen würden wie die potenziellen „Ehrenmörder“ in Parallelgesellschaften heute, ist der beängstigende Unterton, den Loy in seiner gradlinigen Deutung anschlägt. Für ihn sind die Obsessionen in den Beziehungsgeflechten der Kern seiner Deutung.
Adolar liebt Euryanthe und sie ihn. Aber auch Eglantine liebt Adolar. Und Lysiart begehrt Euryanthe, hasst demzufolge Adolar. Diese Konstellation wird in einem stummen Vorspiel zur Ouvertüre unmissverständlich klar. Wenn der Vorhang wieder hochgeht, erleben wir die typische Loy-Übersetzung einer Rittergeschichte in eine ungefähre Gegenwart. Mit einer psychologischen Feinzeichnung der Charaktere und weniger der opulenten Schauerelemente, eines Stück aus dem Reich der Ritter-Romantik. Bei Lysiart (beindruckend präsent: Andrew Foster-Williams) und bei Eglantine (grandios: Theresa Kronthaler) mischen sich verletzte Eitelkeit zurückgewiesener Begehrender und brodelnde Minderwertigkeitskomplexe gegenüber ihren jeweils auch in der Öffentlichkeit erfolgreicheren Rivalen zu einem gefährlichen Gemisch. Euryanthes Ruf soll so geschädigt werden, dass sie nicht nur gesellschaftlich erledigt sein, sondern von Adolar zur „Strafe“ ermordet werden soll.
Loy entlarvt exemplarisch die patriarchalische Männergesellschaft, wenn die Herren im Abendanzug plötzlich an der bis kurz davor angehimmelten Euryanthe herumgrapschen.
Euryanthe entkommt dem Tod nur, weil sie ihren potentiellen Mörder Adolar im letzten Moment vor einer gefährlichen Schlange im Unterholz warnt. Bei Loy steht natürlich die mit diesem Tier gemeinte Eglantine im Türrahmen. Bei Loy gibt es keine opulenten romantischen Zutaten zu seiner psychologischen Tiefenlotung.
Geradezu erstaunlich, wie hemmungslos Loy ein Happy End zelebriert, bei dem Euryanthes Ruf wieder blütenweiß wie ihr Brautkleid ist. Zu diesem geradezu utopischen Schluss hat Norman Reichardt seinen Adolar fest im Griff, und Jacquelyn Wagner lässt ihre schön timbrierte elegante Stimme als Euryanthe aufstrahlen.
Der Jubel im Saal, der dann folgte, war echt und ernst gemeint. Er galt den Protagonisten ebenso wie dem fabelhaften Arnold Schoenberg Chor, dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien, seinem Dirigenten Constantin Trinks und dem Regieteam.

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Die beiden Opernhäuser Wiens haben ihr Opernjahr 2018 mit zwei herausragenden Ereignissen beschlossen.