22. Jahrgang | Nummer 1 | 7. Januar 2019

Ein Solitär ging von der Fahne

von Thaddäus Faber

F.W. Bernstein, aus Göppingen stammend und seit 1984 bis zu seiner Emeritierung einziger deutscher Professor ever für komische Kunst (in Berlin), galt zeitlebens als Personifizierung einer maßlosen, fast schon kriminell zu nennenden Bescheidenheit. Das schlug sich bereits in der Wahl seines Künstlernamens Bernstein nieder. Der Bernstein als solcher verkörpert ja im Vergleich zu wahren Edelsteinen nur eine Andeutung des Gediegenen, einen Hauch des Erhabenen und eine Ahnung des Wertvollen. F.W.B. behielt diesen Namen, den er sich bereits als Schüler gab, bei, obwohl der spätere Künstler doch, um im Bilde zu bleiben, eher ein Koh-i-Noor seiner Genres war, ob es sich nun um das Dichten, das Zeichnen oder die Satire handelte.
Bernstein hat ein nachgerade unüberschaubares Œuvre hinterlassen. Allein das Frankfurter Caricatura-Museum versammelt mehr als 3000 Arbeiten von ihm. Doch es gehört zu den aberwitzigen Pointen des Lebens, die er so überaus zu schätzen wusste, dass es lediglich eines Zweizeilers bedurfte, der so sehr zum öffentlichen Gemeingut geworden ist, dass ihn viele gar nicht mehr mit dem Namen Bernstein verbinden, um diesem die Unsterblichkeit zu sichern:

Die schärfsten Kritiker der Elche
waren früher selber welche.

Dazu merkte der Verfasser später an: „Ich bin insgeheim stolz darauf, dass dieser Spruch Volksgut geworden ist. Ich könnte im Nachhinein die Hand heben: Ist aber von mir! Das wäre albern. Es kann eigentlich nichts Schöneres geben für einen Dichter als das Sprachgut bereichert zu haben – mit dem Nachteil, dass keine Tantiemen fließen.“
Und an anderer Stelle bilanzierte Bernstein:

Hab keine Romane geschrieben,
keine einzige Sinfonie.
Mein Umsturz ist Stückwerk geblieben,
wie meine Tanztheorie.

[…]

Nobelpreis? Nix draus geworden.
Kein Kriegsheld, Konzernherr, null Orden.
Tor des Monats, Befreiungskampf, Geige?
Macht? Schönheit? Genie? Fehlanzeige.

Nur dieses kleine Gedicht,
Reicht das nicht?

Die Frage stellen, heißt sie beantworten.
Bernsteins Meriten jedoch erschöpfen sich hierdurch mitnichten!
Zusammen mit seinen kongenialen Gefährten Robert Gernhardt und F. K. Waechter gehörte Bernstein Mitte der 1960er Jahre zu den Gründern der „Frankfurter Neuen Schule“. Die wollte die Kritische Theorie von Horkheimer und Adorno durchaus aufheben – im Sinne von bewahren und mitnehmen –, wirkte aber vor allem lebensphilosophisch und zwar ganz im Sinne von deren Dialektik der Aufklärung, indem sie der damals nicht nur unter den Talaren vermufften wie zugleich wirtschaftswundersaturierten Bundesrepublik etwas bescherte, dessen sie dringend bedurfte, um lebendig zu werden: ein bis dato fehlendes Verständnis von hintersinnig-subversivem Humor und anarchischer Ironie. Zum vielstrophigen Hymnus der „Frankfurter Neuen Schule“ gerann die legendäre Kolumne „Welt im Spiegel“ (WimS), die in der Satirezeitschrift pardon (Untertitel: „Unabhängige Zeitung für eine sauberere Welt“) erschien, für die das Dreigestirn Gernhardt, Waechter und Bernstein verantwortlich zeichnete.
Bernd Eilert, ein weiterer Mitstreiter, hat den konzeptionellen Ansatz einmal trefflich auf den Punkt gebracht: „Aus dem Humor, der darin besteht, dass man trotzdem lacht, und dem Lachen, das im Halse stecken bleiben soll, wurde eine mehrschichtige Form von Unsinn.“
Soweit die Theorie. Ganz praktisch, und nun wieder Bernstein, entstand dabei solches:

Der Untergang des Abendlandes?
Grad war es noch da.
Und dann verschwand es.

Die Wirkung war durchschlagend.
Welche maßgebliche Rolle der „Frankfurter Neuen Schule“ damit für Anbahnung und Verlauf der 68er-Ereignisse zukommt, harrt allerdings noch einer auch hinreichend würdigenden Darstellung und Analyse.
Bernstein wäre im Übrigen kein Lebensphilosoph gewesen, hätte er nicht auch um die eigene Endlichkeit gewusst, und er wäre kein großer solcher gewesen, hätte er nicht zumindest versucht, das Unvermeidliche aufzuschieben:

Zwanzig Stückchen Käsebrot,
einunddreißig Veilchen,
biete ich Dir, Gevatter Tod,
verschon mich noch ein Weilchen.

Der Gevatter, der gemeinhin als völlig humorlos abqualifiziert wird, weil er immer – also wirklich immer – das letzte Wort haben muss, hat Bernstein fast 81 Jahre Aufschub gewährt. Erst am 20. Dezember vergangenen Jahres trat er ein …