21. Jahrgang | Nummer 26 | 17. Dezember 2018

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Volksverräter, Volkfeinde, Sozis und Nazis, Alt-68er und Populisten von links bis rechts …

***

Erstaunlich, welch wuchtige Denkanstöße das Ibsen-Stück „Ein Volksfeind“ von 1883 auch heutzutage auslöst. Man könnte den Skandal um eine drastische Heilwasserverschmutzung in einem norwegischen Badeort mit schwerwiegenden familiär-privaten und allgemein-sozialen, lokal-ökonomischen und lokal-politischen und überhaupt moralischen Folgen für die gesamte Orts-Elite auch heutzutage direkt vom Blatt spielen. Das Publikum würde die Luft anhalten, so spannend und zeitnah sind die gesellschaftlichen Konflikte.
Man kann es aber auch – wie Thomas Ostermeier anno 2012 überzeugend und aufregend an seiner Berliner Schaubühne (noch im Spielplan) –  gekonnt verquicken mit einer Art Bürgerversammlung, bei der es zum Schlagabtausch kommt zwischen dem Publikum und den Schauspielern in ihren jeweiligen Rollen. Der Clinch wird zusätzlich befeuert durch Zitate aus dem damals heftig im Netz kreisenden, krass kapitalismuskritischen Empörungs-Manifest aus Frankreich „Der kommende Aufstand“. So warf die Regie die alten wie neu brennenden Fragen nach „Ökonomie und Wahrheit“ direkt ins Publikum, das letztlich ratlos reagiert. Viel Aufregung im Saal beim lautstarken Mitmach-Polit-Theater.
Jetzt in der Berliner Volksbühne geht es ein bisschen, aber nicht grundlegend anders zu mit der Bochumer, von Berlin übernommenen Inszenierung und Stückfassung von Hermann Schmidt-Rahmer. Da heißt der Titel nicht mehr „Ein Volksfeind“, sondern „Volksverräter!!“, entsprechend einem Pegida-AfD-Demonstranten-Schlachtruf. Mit zwei Ausrufungszeichen.
Doch keine Sorge, Ibsens Vorlage wird nicht benutzt, um wohlfeil auf die so genannte neue Rechte einzudreschen. Derart leicht haben sich’s die Bochumer nicht gemacht. Freilich, die verzweigte Ibsen-Story wird auf wenige Fakten stichwortartig zurückgeschnitten. Doch das zugunsten einer breit und erschreckend anschaulich ausgemalten, einer die Original-Vorlage sozusagen weiter schreibenden Reflexion über das, was eigentlich heutzutage Linkssein und Rechtssein bedeutet, bedeuten könnte. Und wie sich die althergebrachten Fronten überlagern, wie Grenzen verwischen zwischen den selbstgerechten Vertretern der saturiert liberalen offenen Gesellschaft und ihren durchaus ernst zu nehmenden Kritikern sowie jenen rasenden Kämpfern gegen das „links-grün Versiffte“.
Reflexion zugleich aber auch darüber, was zu dieser womöglich – O-Ton Dramaturgie – „vorbürgerkriegsähnlichen“ Spaltung der Gesellschaft geführt hat. Beispielsweise die massiven Widerstände „von unten“ gegen ein Diktat „von oben“, das für alle gelten soll und das festschreibt, was allgemein zu denken und zu akzeptieren ist und was nicht bezüglich massiver gesellschaftlicher Veränderungen.
Das Raffinierte am theatralisch fantasievollen, die Nerven der Zeit packenden, für manchen Zuschauer vielleicht übertrieben weit gespannten Diskurspanorama ist, dass Schmidt-Rahmers Textfassung sich vornehmlich stützt auf Zitate aus den Medien (TV-Reports, Nachrichten; Netz-Recherche: Jaqueline Rausch). Die Figuren sprechen das fürs Plotverständnis Notwendigste und ansonsten sehr viel in authentischem Gegenwarts-Sound. Also was an gängigem Gerede „da unten“ und „da oben“ wuchert: hochmütiges Dozieren, verstiegenes Theoretisieren, arrogantes Besserwissen, leichtfertiges Ignorieren oder dumpfes Geschimpfe, durchtriebenes Lügen, hasserfülltes Drohen oder grölender Gesang. Da wuchern Dogmatismus und Demagogie. Diverse Wahrheiten liegen gut versteckt zwischen allem, zwischen einigen „echten“ und vielen „unechten“ Fakten.
Das großartige Ensemble liefert sozusagen eine Art Kompaktfassung, was aktuell abgeht – querbeet in deutschen Köpfen, in denen Wahn und Wahrheit sich vehement mischen, doch Vernunft sich rarmacht. Und was dabei mehrheitlich ist, was minderheitlich, was links, rechts oder mittig – es bleibt dahingestellt. Wir haben es also zu tun mit einem kunstvoll fabrizierten, kabarettistisch grell aufgeschäumten und mit Agitprop durchdampften Puzzle zum Thema Wahrheitssuche – schon längst nicht mehr nur auf ein verseuchtes Grundwasser, sondern aufs große Ganze bezogen. Es geht um Identität, Ökonomie, Gerechtigkeit, Revolution, Moral, Opportunismus, Demokratie, Populismus, Fundamentalismus, Toleranz und wer wie das Sagen haben soll. Also geht’s so ziemlich um alles. Klare Antworten – Fehlanzeige.
Dafür viele Fragen. Aber die demokratische Richtung wird deutlich! Und über allem schwebend eine Sorge. Der Dramaturg Sascha Kölzow im Programmheft: „Die bürgerlich-liberale Demokratie, zu Ibsens Zeiten noch in den Kinderschuhen, ist möglicherweise in eine Krise geraten. Liegt das Kind denn reichlich hundert Jahre nach der Uraufführung bereits wieder im Sterben? Geht die spätmoderne Demokratie an ihrer eigenen Komplexität zugrunde? Waren 70 Jahre westliche Wohlstandsdemokratiegeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg nur eine Episode?“
Toll, dass der klug und geschickt agierende Volksbühnen-Interims-Intendant Klaus Dörr diese aufwändige Bochumer Produktion jetzt in seinen Spielplan genommen hat. Wem Deutschland – und nicht nur das – am Herzen liegt, darf sie nicht verpassen.

*

Das Gasthaus Lehninger irgendwo tief in der süddeutschen Provinz um 1930 müssen sich neuerdings die örtlichen Demokraten mit grölenden Nazis als Versammlungslokal teilen. Zunächst aber tagt noch der SPD-Vorstand, derweil draußen schon mal die Jung-Faschos die Fäuste recken: „Hier marschiert der nationale Widerstand!“ Später, wenn die grün-weiß-rote Girlande gespannt sein wird und die Sozen „Italienische Nacht“ feiern, ihr süffiges Vereinsfest, dann erst soll es ordentlich losgehen mit dem nationalen Widerstand: Die Rechten wollen die Linken kaputt hauen. Doch zuvor hissen sie beim Lehninger die Reichskriegsflagge und tanzen martialisch ab. So feiern die Jung-Nazis ihren Deutschen Tag, bevor dann die lauschige italienische Nacht kommt.
Soweit die Grundsituation in Ödon von Horváths Polit-Schwank „Italienische Nacht“ – eine Milieustudie der kleinen, politisch erregten Landleute; uraufgeführt 1931 durch Ernst Josef Aufricht an dessen Berliner Theater am Schiffbauerdamm.
In Thomas Ostermeiers Inszenierung an seiner Berliner Schaubühne sind selbstredend die kleinen Leute jetzt von nebenan. Der SA-Nachwuchs ist eine brutale Neonazigang – Schaubühnen-Statisten in schwarzen Kapuzen-Pullis marschieren mit Fackeln auf in Mannschaftsstärke. Die Republikaner jedoch sind ein sich müde quasselnder Altherren Verein mit SPD-Parteibuch im Nachtschränkchen. Doch dieser labernde Schlaffi-Klub in ausgeleierten Hosen und Strickjacken ist durchmischt mit ein paar linksradikalen, im Kampf gegen Rechts gewaltbereiten Jusos in Lederjacke und Jeans. Die taffen Kerle sorgen immerhin dafür, dass später, als „Die Ricardos“ zum Schwof aufspielen, die roten Vereinsmeier mit blauen Flecken davonkommen und die Schwarzen (letztmalig?) in die Flucht geschlagen werden. Umso krampfhafter bemüht sich der biedere Ortsvorstand, gleich wieder übliche Gemütlichkeit (= Normalität?) herzustellen bei Skat, Braten, Bier und Damenwahl.
Ostermeier zeigt in Horváths „Volksstück in sieben Bildern“ heutige Verhältnisse: Nämlich die programmatische Auseinandersetzung zwischen erschreckend braver Kleinbürgerei, dem opportunistisch-reformistischen Alt-Rot („Keine Gewalt!“), und dem linksradikal schäumenden neu-roten Jungblut. – Das ewige Dilemma: Die gespaltene Linke.
Kostümbildnerin Ann Poppel liefert die dazu passende Kostümierung (Strickweste, Lederjacke), Nina Wetzel den passenden Rahmen: Ein pittoresk runtergekommenes Kneipenhäuschen als grauenvolle Spießerhölle und laubenpieperhafte Amüsierbude der Sozialdemokratie. Dort wabert und labert das verschimmelte Parteivölkchen. Eine vor Klischees strotzende Deppen-Vollversammlung. Da kann man dem lebensgierigen, rockigen und geilen Polit-Nachwuchs sowohl von extrem Links wie extrem Rechts nur Recht geben, wenn der diesen zukunftslosen sozialdemokratischen Muff hinweg blasen will mit samt den aufgeputzten Eheweibchen sowie „Santa Maria“ dudelnden Ricardos.
So toben denn gut zwei Stunden lang in Horváths ohnehin eher schwachem Stück umso heftiger die Klischees. Die Auseinandersetzung Rot-Rot und Rot-Braun geht vornehmlich über Klopperei. Und über allem steht das Motto: SPD ist total Scheiße! Geradezu unheimlich drängt sich da die Frage in den Vordergrund: Haben, zumindest hier im Landhaus Lehninger, die Faschos ein Recht, womöglich gemeinsam mit den Radikalen von der Gegenseite, mit dieser SPD-Scheiße endlich Schluss zu machen? Ist diese Inszenierung, die, teils völlig zu Recht, ein linkes Milieu derart brutal und hoffnungslos bloßstellt (aber das rechte vergleichsweise unterbelichtet rechts liegen lässt), ist dieses totale SPD-Bashing etwa eine unfreiwillige Werbung für revolutionär angestrichene Populisten? Das will die Schaubühne selbstverständlich nicht. Es kommt aber – ziemlich gefährlich – so rüber.
Pause im Text. Und alles völlig anders gesehen: Ostermeier will ein beklemmend grelles Warnbild setzen. Etwa so: Wenn ihr gutmeinenden Linken euch weiter derart zofft und zerteilt und unentwegt entrückt von der Welt die Bauchnabel inspiziert und ängstlich die ideologisch vergrübelten Köpfe hin und her wiegt, dann haben die Rechten oder überhaupt Anti-Demokraten jeder Art ein leichtes Spiel, euch alle samt der Demokratie hinweg zu fegen. Also: Währet geschlossen den Anfängen. Also Brecht: „Der Schoß ist fruchtbar noch.“ Unter diesem Aspekt ist Ostermeiers „Italienische Nacht“ Pflicht für jeden Demokraten. Für jene der SPD ganz besonders!