von Renate Hoffmann
Wintertage, Festtage, umtriebige Tage. Hin und wieder flackert der Gedanke auf, dass es in dieser Zeit auch Tage der Besinnung und Beschaulichkeit geben sollte – oder Stunden oder wenigstens Minuten. Man könnte die Stille suchen; in Düften von Zimt, Anis, Zitronat und Nelken schwelgen. Man könnte zum Beispiel lesen. Und fände, besonders in Weihnachtsgeschichten, die Entdeckung des Gefühls für Freundlichkeit und Nähe.
Der Aufbau Verlag wählte vierundzwanzig Erzählungen aus, die sich um die Weihnachtszeit ranken und hat sie unter dem Titel „Alles leuchtet“ herausgegeben. In ihnen schwingen Humor, Melancholie, überschwängliche Freude, Nachdenklichkeit und Trauer, Wunder geschehen und seltsame Gestalten erscheinen.
Friedrich Wolfs allbekannte „Weihnachtsgans Auguste“ erhält in der Anthologie einen Ehrenplatz. Vicki Baum gesellt die Geschichte vom „Weihnachtskarpfen“ namens Adalbert dazu, den, geschlachtet und köstlich zubereitet, kein Familienmitglied essen wollte. Sie hatten ihn nämlich während seines Vorlebens in der Badewanne liebgewonnen.
Ein feingestimmtes Zusammenspiel von Wirklichkeit und Fantasie mit bitterem Ausklang bettet Ilse Aichinger in durchsichtige, helle Dezembertage. „Engel in der Nacht“.
Charles Dickens beschreibt rezeptgetreu die Herstellung einer Gänsepastete. Er schwärmt für Ingwerbrot, Würstchen im Blätterteig und Käsekuchen. Der Schmuck für das Weihnachtszimmer, Stechpalme und Mistelzweige, trifft ein. In Haus und Hof herrscht reges Treiben; möchte man doch das Fest in diesem Jahr besonders froh und würdevoll begehen. Glockengeläut und Kirchgang. Den Kindern wird vor dem Schlafengehen geheimnisvoll erzählt, dass die Sterne in der Weihnachtsnacht singen. Wer wach bliebe und still sei, der könne es hören. „Ländliche Weihnacht“.
Vielleicht stellt sich nach dieser Geschichte beim Leser Adventsstimmung ein, von der Kurt Tucholsky schreibt: Je näher die Tage dem Weihnachtsfest kämen, desto häufiger melde sich ein „merkwürdiges Gefühl“. Gemischt aus Traum und ein bisschen Weichheit der Seele. Weihnachten sei nun mal das Fest der Seele, und das erkläre auch die Entstehung des Weihnachtsgefühls. „Gefühle nach dem Kalender“.
Der großartige Erzähler Anton Tschechow schildert die Not des neunjährigen Wanka, den man zu einem Schuster in die Lehre gab. – Wanka legt sich in der Weihnachtsnacht nicht zum Schlafen nieder, wartet bis die Hausbewohner zur Frühmesse gegangen sind und schreibt an seinen Großvater einen verzweifelten Brief: „‚Lieber Großvater […] Ich bitte dich auf Knien, […] hol mich wieder nach Hause ins Dorf, hol mich fort von hier, sonst sterbe ich.‘“ Er schiebt das Schreiben in einen Umschlag und versieht ihn mit der Anschrift: „‚An den Großvater im Dorf Konstantin Makarytsch.‘“ Dann rennt er zum Briefkasten, kehrt rasch zurück und schläft selig ein. Im Traum erscheint ihm der Großvater, der auf dem Ofen sitzt und allen den Brief vorliest. „Wanka“.
Tannenbäume sind das A und O des Festes. Stattliche, kümmerliche, denen man erst aufhelfen muss, schlanke und breit ausladende; mit Wachskerzen besteckte, mit Zuckerwerk behängte oder mit Äpfeln und vergoldeten Nüssen. So finden sie sich in vielen Erzählungen zur Weihnacht.
Von einem genialen Einfall zur Beschaffung eines Christbaums berichtet Wolfdietrich Schnurre in seiner Geschichte „Die Leihgabe“. Der Vater, arbeitsloser Hilfspräparator in einem Berliner Museum, möchte seine Familie mit einem schönen Weihnachtsbaum überraschen, „nicht so einen murkeligen, der schon umkippt, wenn man bloß mal eine Walnuss dranhängt“. Im Grunewald stehlen? Nein! Aber im Friedrichhain einen borgen? Ja! Vater und Sohn graben nächtens in der großen Parkanlage eine Blautanne aus und stellen sie bis zum 24. Dezember in eine wassergefüllte Wanne. Am Heiligen Abend wird das Prachtexemplar mit Sternen aus Stanniolpapier und einigen Lebkuchenfiguren geschmückt. Nach dem zweiten Feiertag graben Vater und Sohn die Tanne wieder ein. – Sie wuchs an. Einzelne Silbersterne hingen noch bis zum Frühjahr daran.
Aus Amerika kommt eine Kiste. Darin befindet sich, in Einzelteilen verpackt, nummeriert, zusammensteckbar und patentiert, ein Tannenbaum. Das Glanzstück ist aufziehbar, dreht sich und spielt Musik. Doch etwas fehlt. „Er riecht nicht nach Weihnachten“, stellen die Kinder fest. Die Mutter besorgt ein Bäumchen, das niemand mehr kaufte, weil es so „elend und erbärmlich“ aussah. Es wird mit Baumschmuck behangen, auf einen Tisch gestellt, und die Kerzen werden angezündet. „Dies ist Weihnachten“, rufen die Kinder voller Begeisterung. Von Julius Stinde stammt „Der patentierte Tannenbaum“.
Viele bekannte Schriftsteller kennen Tucholskys „Weihnachtsgefühl“ und verleihen ihm, jeder auf seine Weise, Ausdruck in dieser Sammlung. Selma Lagerlöf ist unter ihnen und Theodor Fontane; Erwin Strittmatter verrät, wie er die Entzauberung des Weihnachtsmannes erlebte. Hans Christian Andersens „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen“ und E.T.A. Hoffmanns „Nussknacker und Mäusekönig“ liest man erneut nach vielen Jahren und spürt bei sich die Freude des Wiederfindens.
Die Erzählungen sind lesenswert in geruhsamer Stunde und vorlesenswert in freundlicher Runde.
Catrin Polojachtof (Hrsg.): Alles leuchtet. Die schönsten Weihnachtsgeschichten, Aufbau Verlag, Berlin 2016, 319 Seiten, 9,99 Euro.
Schlagwörter: Lesen, Renate Hoffmann, vorlesen, Weihnachten