von Erhard Crome
Die deutsche Linke – im Sinne von „links der SPD“ – entwickelt sich seit Beginn der 1990er Jahre antizyklisch. Zunächst bedurfte es größter Anstrengungen, die politische Linke in Gestalt der PDS überhaupt über das Ende der DDR und die deutsche Einheit zu bringen, begleitet von der Gegnerschaft aller anderen politischen Kräfte in Deutschland, die nur auf ihr Ende warteten.
Zur selben Zeit nahm die Linke in Lateinamerika einen beachtlichen Aufschwung. Anfang der 2000er Jahre folgte eine sichtliche Stärkung der sozialen Bewegungen, die in den Weltsozialforen und den Europäischen Sozialforen ihren starken öffentlichen Ausdruck fanden. Als im November 2002 das Europäische Sozialforum in Florenz stattfand, war Partito della Rifondazione Comunista (PRC), die italienische „Partei der Kommunistischen Wiedergründung“ die wahrscheinlich attraktivste neue Linkspartei in Europa. Ihre Mitglieder und Anhänger standen im Hintergrund des spektakulären Erfolgs dieses ersten Sozialforums ein Europa. Sie war in den sozialen Bewegungen Italiens gut vernetzt. Den Gedanken, diese dominieren oder paternalisieren zu wollen, hatte sie aufgegeben; sie verstand sich als Teil der Bewegungen und war bestrebt, Positionen der Globalisierungskritik, des Feminismus, des Anti-Rassismus, der Ökologie und der Friedensbewegung politisch aufzunehmen, ohne den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit aus dem Blick zu verlieren. Nach Florenz demonstrierten viele linke Jugendliche in verschiedenen Ländern mit der Fahne der PRC, weil ihnen die Linken im eigenen Land nicht attraktiv genug erschienen. Die Französische Kommunistische Partei und die dortigen Sozialisten ermöglichten 2003 ein attraktives Europäisches Sozialforum in Paris. Die PDS hatte damals gerade ihre Bundestagsfraktion verloren.
Inzwischen sind die Linken in Italien zerfallen und nicht mehr im Parlament vertreten, die französischen Kommunisten kaum noch ein Schatten ihrer selbst, die Partei des Linken Mélenchon hat 17 von 577 Sitzen der Französischen Nationalversammlung. Die Sozialdemokraten Europas, die Ende der 1990er Jahre in den meisten EU-Ländern regierten und sich als Protagonisten eines sozialdemokratischen Zeitalters verstanden, sind in vielen Ländern ebenfalls marginalisiert; die SPD hatte bei der Bundestagswahl 1998 über 20 Millionen Wähler, 2017 9,5 Millionen. Dazwischen lagen Schröders „Agenda 2010“ und „Hartz IV“, Mitgliederschwund und programmatische Leere. Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Lateinamerika fiel der Flucht von 2,3 Millionen Venezolanern aus ihrem Lande zum Opfer. Der frühere Präsident Brasiliens, Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei, wurde ins Gefängnis gesperrt; die jüngsten Präsidentschaftswahlen gewann ein Faschist. Dieser traurige Zustand der Linken in der Welt ist nicht mehr linear auf das Fiasko des Realsozialismus in Osteuropa zurückzuführen. Der ist vor allem Resultat der nachfolgenden Entwicklungen.
In Spanien, Italien und Frankreich entstanden neue politische Bewegungen, die sich als links, aber in Abgrenzung zu den traditionellen linken Parteien definierten, und rasch parteiförmig wurden. Parteipolitisch gibt es zwei Ausnahmen in Europa: die Syriza-Regierung in Griechenland, die allerdings von der EU-Verwaltung geknebelt wird, und die deutschen Linken. Die Linkspartei liegt stabil bei etwa zehn Prozent der Wahlumfragen. Angesichts der Schwäche der SPD – 14 bis 15 Prozent, was nur noch zwei Drittel des mageren Bundestags-Wahlergebnisses von 2017 sind – gibt es jedoch derzeit keine linke Regierungsoption. Die Grünen verbürgerlichen weiter.
Wie kommt man aus einer solchen Lage heraus? Ein Versuch ist die Bewegung „Aufstehen“ als Initiative, Linke aus den drei Parteien SPD, Linke und Grüne und darüber hinaus in einen intensiveren Diskussionszusammenhang zu bringen und die politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland wieder nach links zu verschieben.
Darüber hat der Journalist Rainer Balcerowiak gerade ein Buch veröffentlicht. Er sieht „aus den Ruinen der europäischen Linken so etwas wie eine neue Sozialdemokratie auferstehen“ – Aufstehen also nicht als Vorboten einer neuen Revolution, sondern einer konsequenteren Reformpolitik. Was im kleinen, verschuldeten Griechenland durch die Berliner Regierung und die EU-Kommission unterbunden wurde, muss ja im reichen, EU-hegemonialen Deutschland nicht notwendig ebenfalls scheitern.
Balcerowiak erinnert daran, dass eine linke Sammlungsbewegung jenseits der etablierten Parteien keine Erfindung von Sahra Wagenknecht ist, sondern bereits mit den „Komitees für Gerechtigkeit“ 1992 und der „Erfurter Erklärung“ 1997 versucht wurde – beide jeweils mit einer bestimmten Resonanz und vom bürgerlichen Feuilleton verhöhnt. So klingt der Forderungskatalog von Aufstehen „wie ein Konzentrat der guten Wünsche aus fünfzig Jahren sozialdemokratischer, grüner und linker Politik“ und „enthält keine Überraschungen“: erneuerter, starker Sozialstaat, naturverträgliches Wirtschaften, soziale Daseinsvorsorge, Stärkung der Demokratie und eine Friedenspolitik, die unabhängiger von den USA wird und auf Abrüstung, Entspannung und friedlichen Interessenausgleich setzt.
Ein Problem in Deutschland ist, dass sich SPD und Grüne als Teil der „Mitte“ verstehen, links nur die Linke ist, „die Zuordnung bei den Linken“ sich jedoch immer weiter diversifiziert, mit neuen Adjektiven: „Es gibt demokratische, sozialistische, kommunistische bzw. orthodoxe, antikapitalistische, anarchistische, antifaschistische, radikale, gemäßigte, ökologische, feministische und postmoderne Linke.“ Aus „all diesen Strömungen so etwas wie eine linke Sammlungsbewegung zu formen, scheint eine Herkulesaufgabe.“ So stehen nicht nur die Parteivorstände von SPD und Linker Aufstehen ablehnend bis feindlich gegenüber, auch die sogenannte „Interventionistische Linke“ offenbart sich als Gegnerin: Aufstehen sei eine „nationalstaatlich-kommunitaristische Kraft“ (das gilt unter gewissen Linken als Schimpfwort), die sich gegen „die kosmopolitische Linke“ stelle. Balcerowiak sieht es als eine „deutsche Besonderheit“ an, im Unterschied zu links-populistischen Sammlungsbewegungen etwa in Frankreich und Spanien, „dass sich innerhalb der parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken ein starker postmoderner Flügel etabliert hat, mit starker Fokussierung auf Identitätsfragen, alternative Lebensentwürfe, soziokulturelle Randgruppenpolitik und kosmopolitische statt nationalstaatliche Sichtweisen“.
Zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Buches, September 2018, zählte Aufstehen über 100.000 registrierte Unterstützer, darunter 15 Prozent Mitglieder der Linkspartei, mehr als fünf Prozent SPD-Mitglieder und ein Prozent Grüne – über 75 Prozent der Unterstützer sind folglich parteilos, also aktive Menschen, die nicht einer der drei Parteien angehören. Das kann als beachtlicher Erfolg angesehen werden. Des Autors Fazit ist: Um Wirkung zu erzielen, müsse Aufstehen „zum Motor sozialer Bewegungen werden und diese zu einer Massenbewegung für einen Politikwechsel in Deutschland bündeln.“ Spätestens nach den drei Landtagswahlen im Osten müsse die Bewegung im Oktober 2019 bereit sein, Parteiform anzunehmen. „Die Gründung einer neuen linken Volkspartei kann dabei ebenso wenig ein Tabu sein wie die Trennung von linken Strömungen, die ein postmodernes Gesellschaftsverständnis und eine universalistische Moralethik predigen und darum dem Kampf um die soziale Teilhabe der ‚einfachen Leute‘ den Rücken kehren.“ Mit dieser Pointe scheint Balcerowiak jenen in SPD- und LINKE-Vorstand recht zu geben, die Sahra Wagenknecht und den anderen Gründern unterstellen, dies sei von Anbeginn die Absicht gewesen. Das ergibt sich aus der Argumentation in dem Buch gerade nicht. Aber es könnte das politische Resultat sein. Auch wegen der feindlichen Intransigenz der Parteivorstände.
Rainer Balcerowiak: Aufstehen und wohin geht’s? Verlag Das Neue Berlin 2018, 144 Seiten, 10,00 Euro.
Schlagwörter: "Aufstehen", Erhard Crome, Linke, linke Sammlungsbewegung, Rainer Balcerowiak