21. Jahrgang | Nummer 23 | 5. November 2018

Freundschaft mit Russland

von Wolfgang Schwarz

Eine neue Entspannungspolitik
ist das Gebot der Stunde.
Adelheid Bahr

Die DSF, die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, war als politische Massenorganisation in der DDR nicht nur Bestandteil des sich auf alle gesellschaftlichen Sphären erstreckenden Herrschaftsapparates der SED, sondern auch viel zu durchbürokratisiert, als dass das im Namen formulierte Anliegen hätte durchgehend zur Herzensangelegenheit werden können.
Bleibenden Schaden scheint die DSF allerdings auch nicht hinterlassen zu haben. Trotz seit 2014 praktisch durchgängiger Indoktrinationsbemühungen der Politik und der Leitmedien, die Deutschen wieder auf das Feindbild Russland zu trimmen, sprachen sich bei einer Umfrage vor wenigen Monaten 72 Prozent der Ostdeutschen dafür aus, dass sich Deutschland Russland annähern sollte, und 43 Prozent plädierten sogar für „eine deutliche Annäherung“. Selbst, man höre und staune, 54 Prozent der Westdeutschen befürworteten eine Annäherung, und nur 29 Prozent wollten auf größere Distanz gehen.
Das ist zugleich einmal mehr ein erhellendes Beispiel dafür, was unsere parlamentarische Demokratie nicht ist – eine Veranstaltung, in der vernünftige Bevölkerungsmehrheiten die Politik bestimmen. Denn was die Bundesregierung im Rahmen von NATO und EU weiterhin für eine Linie gegen Russland nicht nur mitträgt, sondern aktiv mitgestaltet, entspricht dem Votum der Mehrheit im Lande ganz offensichtlich nicht. Oder um es mit den Worten von Daniela Dahn zu sagen: „Der Bruch des neuen SPD-Außenministers Heiko Maas mit der etwas milderen Russland-Linie seiner Vorgänger Steinmeier und Gabriel verärgert 81 Prozent der SPD-Mitglieder. Aber das freie Mandat befreit vor allem von der Rücksichtnahme auf die Basis. Vorsicht also mit Belehrungen über Demokratie.“
Umso verdienstvoller ist die Initiative von Adelheid Bahr, der Witwe des großen Vordenkers, Mitrealisators und lebenslangen Verfechters der Brandtschen Neuen Ostpolitik, in einem Sammelband Stimmen über ein breites politisches und gesellschaftliches Spektrum zu vereinen, die sich ohne Wenn und Aber mit vielfältigen Argumenten für „Frieden und Freundschaft mit Russland“ aussprechen, wie die bereits zitierte Daniela Dahn. Die Palette der Autoren reicht von Matthias Platzek und Siegmar Gabriel (SPD), über Oskar Lafontaine (Die Linke), Antje Vollmer (Die Grünen) und Wolfgang Kubicki (FDP) bis zu Willy Wimmer (CDU) und Peter Gauweiler (CSU). Künstler wie Konstantin Wecker und Justus Frantz sind ebenso vertreten wie der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Harald Kujat und der frühere deutsche Spitzendiplomat Frank Elbe, womit längst nicht alle genannt sind.
Peter Gauweiler sieht beim Blick zurück und damit auf die Ursachen der heutigen Konfrontation zwischen dem Westen und Russland offenbar keine Veranlassung für Ausgewogenheitsgeschwurbel. Sehr direkt heißt es bei ihm: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion „gab es eine Chance, eine friedliche, großartige Ordnung zusammen mit Russland zu bauen. […] Doch der Westen ließ diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen. Die NATO machte weiter, als wäre der Warschauer Pakt nicht verschwunden. Anstatt Russland immer mehr in die Staatengemeinschaft einzubinden, wurde es in die politische Isolation getrieben.“
Wolfgang Kubicki merkt unter anderem an: „Dass sich manch einer bei uns im Westen als moralisch höherwertig fühlt, wenn er Völkerrecht bricht, ändert nichts an dem Umstand, dass er das Völkerrecht bricht.“
Harald Kujat ist überzeugt, dass in der gegenwärtigen Lage „alles dafür [spricht], die strategische Partnerschaft mit Russland wie­derzubeleben. Auf diese Weise könnte das Problem des ballistischen Raketenabwehrsystems der NATO auf eine für beide Seiten akzeptable Weise gelöst und mit der Vereinbarung vertrauensbildender militärischer Maßnahmen ein großer Schritt in Richtung Entspannung getan werden.“
Im Übrigen sind Politiker natürlich auch nur Menschen. Und denen fällt bisweilen nicht auf, dass sie, wenn sie mit Nachdruck für A plädieren, im gleichen Kontext jedoch B als condicio sine qua non einführen, damit zugleich Zielstellung A sehr wirkungsvoll verhindern. So eine Fußangel hat sich Siegmar Gabriel in seinem Beitrag „Wandel durch Annäherung – Zur Aktualität der Rede Egon Bahrs vor 55 Jahren in Tutzing“ gelegt. Er sagt einerseits völlig zutreffend: „[…] wenn es damals die Politik Egon Bahrs war, kleine Türen in den eisernen Vorhang zu bauen, um daraus irgendwann auch das große Brandenburger Tor aufstoßen zu können, dann ist es heute unsere Aufgabe, wieder mit dem Bau von schmalen Brücken anzufangen, den wir über den breiter gewordenen Graben zwischen Europa und Russland in Angriff nehmen müssen.“ Doch unmittelbar im Anschluss heißt es apodiktisch: „[…] keine deutschen Alleingänge in Europa im Verhältnis zu Russland.“ Eine Selbstverpflichtung wie die letztere wäre Carte blanche für die Regierungen Polens und der baltischen Staaten, im Rahmen von NATO und EU weiterhin jeden Fortschritt in den Beziehungen zu Moskau beliebig zu blockieren. Gegebenenfalls bis Sankt Nimmerlein. Da müssen andere, denen das ganz recht ist, gar nicht mehr aus der Deckung kommen.

Adelheid Bahr (Hrsg.): Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen. Ein Aufruf an alle von Matthias Platzeck, Peter Gauweiler, Antje Vollmer, Oskar Lafontaine, Gabriele Krone-Schmalz, Peter Brandt, Daniela Dahn und vielen anderen, Westend Verlag, Frankfurt/M. 2018, 208 Seiten, 18,00 Euro.