von Detlef D. Pries
Vor 90 Jahren – nicht nur das Blättchen hat daran mehrfach erinnert – erlebte die „Dreigroschenoper“ von Brecht/Weill am Schiffbauerdamm ihre Uraufführung: der größte Theatererfolg der Weimarer Republik, wie man liest sogar das meistgespielte Stück des 20. Jahrhunderts.
Beim Blättern im Jahrgang 1928 der Weltbühne allerdings stößt man auf ein polemisches Geplänkel, das zu bestätigen scheint, was Ursula Madrasch-Groschopp 1983 in ihrem Buch „Die Weltbühne. Porträt einer Zeitschrift“ als „Legende“ bezeichnete: Brecht und die Weltbühne – sie „mochten sich nicht“. Tatsächlich verrät die Kontroverse manches über die Empfindlichkeiten der Kontrahenten. Zunächst wird man bemerken: Das „Blättchen“ würdigte das Theaterereignis des Jahres 1928 reichlich spät. Nach der Uraufführung des Stückes am 31. August verstrichen fast fünf Wochen, bevor in Nummer 40 vom 2. Oktober eine Kritik aus der Feder des langjährigen Weltbühnenautors Harry Kahn erschien. Herausgeber Carl von Ossietzky hatte zuvor schon eine versteckte Erklärung dafür geliefert, als er in der Ausgabe vom 25. September schrieb: „Da in diesen Tagen des beginnenden Herbstes der Herr Rezensent der Jahreszeit eine Kontribution in Form einer kleinen Bettlägrigkeit entrichtet, muß der politische Teil wieder einspringen.“
Harry Kahns Temperament, erinnerte sich Tucholsky später, fegte bisweilen „dem Wüstenwind gleich durchs Blättchen“. In diesem Fall allerdings schwächelte der Wüstenwind, wenigstens zeitweilig. Seinen Text überschrieb er denn auch „Traum und Erwachen“. Der Traum – als Albtraum im Fieberdelirium geschildert – tut hier wenig zur Sache, wohl aber das Erwachen, verursacht durch ein „donnerähnliches Geräusch“. Vor seinem Bett, schrieb Kahn, habe – „umwedelt von seinen Redaktionshaustieren Tiger und Panter“ – der Herausgeber gestanden und gescholten: „Die ganze Kritik steht Kopf, und Sie haben Ihren nicht einmal beieinander!“ Flugs habe er zum Nollendorfplatz eilen wollen (wo Erwin Piscator am Neuen Schauspielhaus seinerzeit sein Avantgardetheater betrieb). Der ungehaltene Auftraggeber aber wies ihn zurecht: „Sie wissen noch nicht, wo der neue Gott wohnt! Am Schiffbauerdamm, Herr, am Schiffbauerdamm …“
Soweit der dramatische Auftakt zu Kahns Besprechung der „Dreigroschenoper“. Allein, das „Stück mit Musik in einem Vorspiel und acht Bildern nach dem Englischen des John Gay mit eingelegten Balladen von Francois Villon und Rudyard Kipling, übersetzt von Elisabeth Hauptmann, bearbeitet von Brecht, Musik von Kurt Weill, Regie von Erich Engel, Bühnenbild von Caspar Neher usw. usw.“ ließ den Rezensenten „ziemlich kühl“. Er habe sich sogar „erheblich gelangweilt“. Den Zuschauern ringsum sei es vermutlich ähnlich gegangen: „An die Nieren griff ihnen außer der gespenstisch-großartigen Lumpenproletarier-Type des dresdner Schauspielers Erich Ponto lediglich der furios vertonte Song von den Soldaten, die auf den Kanonen wohnen und aus fremden Rassen, farbigen wie blassen, ihr Beefsteak tartare machen. Da verbreitete sich Stimmung im Parkett, Fridericus-Stimmung nämlich, Stimmung für frisch-fröhliche Wehrpflicht und Kolonien und Panzerkreuzer.“
Mit der „Beggar’s Opera“ habe John Gay 200 Jahre zuvor der Londoner Polizei zum Gelächter des Publikums eins ausgewischt. Damit jedoch wisse das deutsche Publikum des Jahres 1928 nichts anzufangen. „Mit der Modernisierung der Kleider und Nennung von ein paar derzeitigen Institutionen ist da nichts geschafft.“ Noch so schmissige Bänkelsänge, noch so schnurrige Bühnenwitze seien nicht imstande, „der zur albernen Moritat abgeblaßten Fabel vom feschen Straßenräuber, der die Tochter des Bettlerkönigs entführt und schließlich trotz seiner Busenfreundschaft mit dem Polizeigewaltigen doch baumeln muß, neuen Lebenssaft, geschweige aktuelle Stoßkraft zu verleihen.“ Was sich da als „Dreigroschen-Oper“ präsentiere, sei „nicht Fisch und nicht Fleisch; nicht historisch und nicht von heute […]“ Vielmehr sei es ein „mit viel zu großartigen Mitteln aufgezogener Künstlerklamauk“, dazu um gut die Hälfte zu lang geraten. Kahns Fazit: Die dreistündige Vorstellung im Theater am Schiffbauerdamm zeuge lediglich für die „einreißende Tendenz zur Verwässerung des Theaters ins Artistisch-Kabarettistische.“
Eine Kritik, die Brecht nicht gefallen haben kann. Mit seinem Missvergnügen hielt der Meister denn auch nicht hinterm Berg. Leser der Weltbühne erfuhren davon sieben Hefte später, Ausgabedatum 20. November. Fast versteckt, nämlich unter der Rubrik „Antworten“, wandte sich der Herausgeber ironischerweise an „Frl. Hauptmann, Sekretärin bei Herrn Bert Brecht“: „Sie übersenden mir zum Abdruck den folgenden in Schreibmaschinenschrift mit ‚Brecht‘ gezeichneten Brief, dessen Echtheit ich indessen nicht zu bezweifeln wage, da ich durch Lesen von Brechtkommentaren beschlagen genug bin, auch in dieser bescheidenen Nebenarbeit den oft gerühmten balladesken Stil Ihres hohen Prinzipals zu erkennen.“
Und was schrieb der Prinzipal?
„Kleiner Brief an einen Kahn. Werter Herr, ich sehe mich leider gezwungen, Ihnen zu gestehen, daß ich einen Fehler gemacht habe. Als Sie vor der 25. Aufführung der Dreigroschenoper […] auf mich zustürzten mit dem Ersuchen, Ihnen einen besseren Platz zu verschaffen, hätte ich Sie zweifellos nicht abweisen sollen. Es war reine Hybris, Sie haben vollständig recht, wahrscheinlich war mir der Erfolg zu Kopf gestiegen. Sie sagten gleich, es wäre im Interesse einer objektiven Kritik wichtig, daß ich Ihnen einen Platz weiter vorn verschaffte. Ich meinte damals, daß Ihr Platz für eine objektive Kritik nicht zu weit hinten sei, aber da habe ich mich eben getäuscht. Jetzt Ihre Kritik lesend, sehe ich ein, daß ich unrecht und Sie recht hatten: Ihr Platz war für eine objektive Kritik zu weit hinten. Brecht.“
Ossietzky befand dies als einen „törichten Terrorisierungsversuch, eines Dichters wie Brecht nicht würdig“. Der unterstelle niedrige Motive, weil er nicht „das gewünschte Quantum Lorbeer“ geliefert bekommen habe.
Seinem Theaterkritiker hatte Ossietzky dringend davon abgeraten, auf diese „unqualifizierbare Verdächtigung“ zu reagieren. Der „Wüstenwind“ aber ließ sich nicht bremsen und fauchte zurück: „Sechs Wochen nach meiner Besprechung der ,Dreigroschen-Oper‘, jetzt auf einmal geht Herrn Brecht auf, wo der Hase im kritischen Pfeffer liegt […] Was er aber anscheinend nicht weiß, das ist die Tatsache, daß ich erst darüber schrieb, nachdem ich es, und zwar von einem (durch den Dramaturgen des Hauses, selbst freundlicherweise besorgten) ausgezeichneten Platz, mehr als eine Woche nach jenem Renkontre mit dem Mitverfasser, zum zweiten Mal genossen hatte.“ Nichtsdestoweniger habe der Meister mit seinem Verdacht ganz recht. Er, Kahn, habe ja auch im Januar selbigen Jahres Brechts „Mann ist Mann“ allerhand am Zeuge geflickt, „weil ich zwar von der Volksbühne einen glänzenden Platz, aber keine Gratiswürstchen bekommen hatte“. Drei Wochen darauf habe er bedauert, „daß ,die größte Hoffnung‘ (der jungen deutschen Dramatik) sich in unwegsame Dschungel verlaufen‘ habe, aus keinem andern Grund als, weil ich auf die herrliche Lederjacke dieser Hoffnung, Bert Brecht geheißen, neidisch war.“ Gerne aber attestiere er Brecht, dass die „Dreigroschenoper“ weit mehr Humor aufweise als das jüngste, „mir gewidmetes Opus“ des Autors.
Kann man daraus schließen, dass sie sich „nicht mochten“? Tucholsky selbst hatte ein halbes Jahr zuvor geurteilt: „Er (Brecht – D.P.) kann nicht nur viel, er ist nicht nur ein Sprachmeister; er hat, um einen Berliner Ausdruck zu gebrauchen, ‚er hat was drauf‘“. Noch im September war Lion Feuchtwangers wohlwollender Artikel „Bertolt Brecht, dargestellt für Engländer“ in der Weltbühne erschienen. Und auch Harry Kahn schloss seinen Text versöhnlich: Er freue sich sehr für Brecht, wenn der an seinem Stück „so viel verdient, daß er die Ruhe zum Ausreifenlassen des wirklichen Dramas der Zeit gewinnt, das wir alle noch von ihm erwarten.“
Schlagwörter: Bertolt Brecht, Detlef D. Pries, Dreigroschenoper, Harry Kahn, Theaterkritik, Weltbühne