21. Jahrgang | Nummer 25 | 3. Dezember 2018

Bahn frei für Ankara

von Stephan Jakubowski

„In den letzten beiden Jahren wurden vermehrt auch deutsche Staatsangehörige willkürlich inhaftiert. Festnahmen und Strafverfolgungen deutscher Staatsangehöriger erfolgten mehrfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien. Dabei können auch solche Äußerungen, die nach deutschem Rechtsverständnis von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, Anlass zu einem Strafverfahren in der Türkei geben.“

Offizielle Meldung auf der Website des Auswärtigen Amtes*

Wie bekannt ist, werden und wurden in der Türkei unzählige Menschen inhaftiert für die Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung. So willkürlich, wie dies das deutsche Auswärtige Amt sieht, geschieht das nicht. Vor allem jene, die sich parlamentarisch wie außerparlamentarisch für die Interessen der kurdischen Bevölkerung in der Türkei und den benachbarten Staaten einsetzen, erleiden eine absurd harte Repression unter dem universell anwendbaren Vorwurf der „Terrorunterstützung“. Das AKP/MHP-Regime führte einen blutigen Krieg gegen die eigene hauptsächlich kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes. Dabei gingen Armee und Spezialeinheiten erst mit Artillerie und Panzern vor und nun werden die ausgebombten Städte und Kulturstätten gezielt abgerissen, durch Neubauten ersetzt und bewusst regimefreundliche Menschen angesiedelt. Das sind mitunter auch im Schnellverfahren eingebürgerte ehemalige islamistische Kämpfer aus den Reihen von Milizen wie al-Nusra und ähnliche. Die angrenzenden Gebiete der autonomen Kantone Rojavas in Syrien lässt Erdogan hauptsächlich mit teils selbst ausgebildeten islamistischen Söldnern angreifen, die ebenfalls vorher bereits in Syrien gekämpft haben – immer wieder tauchen Berichte auf, dass dies bisweilen sogar in den Reihen des IS geschehen sein soll. Es kam zu Plünderungen, Raub, Entführungen und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung im besetzten Afrin. All das nicht nur ohne jegliches Mandat, dafür im unverhohlen offenen Bruch des Völker- und des Menschenrechts. Wer sich zu diesen untragbaren Zuständen oder dem Regime aber kritisch äußert, kann schnell auch für Bagatellen wie einen Like bei Facebook oder das Tragen eines T-Shirts mit dem falschen Aufdruck inhaftiert werden. Da nützt es auch nichts gewählter Parlamentarier zu sein, wie der Co-Vorsitzende der HDP Selahattin Demirtaş erfahren durfte. Eine Untersuchungshaft kann dann nach geltendem türkischem Recht ohne jede Anklageerhebung oder ein Verfahren auch mal eben bis zu sieben Jahre andauern. Derzeit sitzen hunderttausende politische Häftlinge in den Gefängnissen. Darunter sind auch einige deutsche, die als angebliche „Terrorunterstützer“ einer politisch schwer befangenen Justiz ausgeliefert sind.
Nun sind die Türkei und ihre Repressalien für die meisten Bürger hierzulande weit weg und auch die Lobby der progressiven Kurden hat keine besonders starke Öffentlichkeitswirkung in Deutschland. Doch verkürzt sich diese Distanz bisweilen rasant, wenn unter anderem Symbole der progressiv-demokratischen Milizen der Volks- (YPG) und Frauenbefreiungseinheiten (YPJ) öffentlich gezeigt werden. Es droht eine Verfolgung durch hiesige Sicherheitsbehörden.
Prominente Fälle belegen deren mitunter energisches Vorgehen: Der Journalist Anselm Schindler wurde gerade vom Münchner Amtsgericht zu 110 Tagessätzen oder insgesamt 4400 Euro Strafe verurteilt und ist damit vorbestraft für das Tragen einer YPJ-Flagge auf einer Demonstration. Der Wissenschaftler und Aktivist Kerem Schamberger hat die zweifelhafte Ehre gleich mehrere Verfahren und laufende Prozesse wegen Postens der kurdischen Flaggen bei Facebook zu verzeichnen. Dabei kam es außer bei Schamberger auch in einer Münchner Studenten-WG zu Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmung von Handys und Rechnern unter martialischem Auftreten der teilnehmenden Polizisten für das Teilen oder Einstellen eines Fotos bei Facebook. Auch der Gasthof Meuchefitz im Lüneburger Land kann davon ein trauriges Lied singen, denn dieser wurde von schwerbewaffneten Polizei-Einheiten gestürmt, um ein Solidaritäts-Transparent für Afrin abzuhängen. Und schließlich ist da der Fall des Münchner Cellisten Johannes König, dem für das unkommentierte Teilen eines Beitrags des Bayrischen Rundfunks bei Facebook ein Ermittlungsverfahren durch den Staatsschutz eröffnet wurde.
Damit wird man in diesem Land bisweilen konsequenter verfolgt, wenn man seine Solidarität gegenüber den progressiven, demokratischen Kräften der YPG und YPJ bekundet, als wenn man wie beispielsweise in Chemnitz geschehen öffentlich den Hitlergruß vor mehreren Polizeibeamten zeigt.
Dieses Vorgehen ist schizophren, schwammig und gefährlich systematisch zugleich. Während in Bayern harte Verurteilungen erfolgen, werden Verfahren in anderen Bundesländern gar nicht eröffnet oder enden mit einer Einstellung beziehungsweise Freispruch. Weiter gehören die kurdischen Einheiten in Syrien und im Iraq zur Anti-IS-Koalition und werden beziehungsweise wurden nicht nur von verschiedenen europäischen Regierungsvertretern empfangen, sondern auch in ihrem Kampf gegen den IS finanziell und materiell unterstützt – auch von Deutschland. Kanzlerin Merkel und verschiedene Abgeordnete bedankten sich öffentlich in Bundestagsreden für den Einsatz von YPG und YPJ bei der Befreiung der Jesiden aus der genozidalen Umklammerung des IS am Sindschar-Gebirge. Weiter sind auch deren Flaggen theoretisch lediglich dann problematisch, wenn sie als Synonym für die in Deutschland als terroristische Vereinigung verbotene Kurdische Arbeiterpartei (PKK) verwendet werden. Und an dieser Stelle machen sich die deutschen Behörden zu Komplizen der türkischen Regierung, indem sie deren Interpretation über die (zugegeben teils komplizierten) Strukturen und Inhalte der verschiedene kurdischen Fraktionen übernehmen und kriminalisieren.
Die einfache Essenz: Hinter allem, was die Kurden aus dem Südosten der Türkei und dem Norden Syriens machen, steckt vermeintlich die PKK. Und wenn das Terroristen sind, sind es auch alle kurdischen Milizen, alle zivilen Unterstützer und im Zweifelsfall auch einfach alle, die bei der sogenannten Kurdenfrage mit der „falschen“ Seite sympathisieren. Zwar sind das Verbot der PKK und deren Einstufung als „Terroristen“ streitbar, doch ist das ganz praktische Resultat, dass auch kurdische Veranstaltungen oder Demonstrationen in Deutschland unabhängig von Anmeldern oder angekündigtem Inhalt laut Einschätzung des Bundesinnenministeriums immer in die Nähe der PKK gerückt und damit mindestens mit harten Auflagen oder gar Verboten belegt werden können – ein völlig unverhältnismäßiger Einschnitt in die Ausübung von Grundrechten.
All dies aber ist zumindest politisch gesehen stringent, denn die Partnerschaft zwischen Deutschland und der Türkei ist historisch gewachsen und auch über verbale Entgleisungen hinweg tief verankert. Als deutsche Ingenieure federführend beim Bau der historischen Bagdad-Bahn beteiligt waren und armenische Zwangsarbeiter sich dabei im Zuge des Genozids zu Tode arbeiteten, billigte die deutsche Reichsregierung dies wohlwollend. Gerade erst war Wirtschaftsminister Altmaier mit einer hochkarätigen Wirtschaftsdelegation, zu der unter anderen die Chefs von Siemens und Thyssen-Krupp gehörten, zu Gast um einen möglichen Deal über die Bagdad-Bahn 2.0 zu erörtern – einem 35 Milliarden-Euro-Deal. Darüber hinaus ist die deutsche Industrie nicht nur der wichtigste ausländische Investor in der wirtschaftlich angeschlagenen Türkei. Kontinuierlich beliefert die Bundesrepublik das Regime mit Waffen. Am zweitgrößten Militär innerhalb der NATO, das sich seit 40 Jahren im Bürgerkrieg befindet und seit geraumer Zeit auch militärisch versucht, türkische Hegemonialmachtansprüche in der Region durchzusetzen verdient man mit Waffenlieferung sehr gut. Politische Hilfestellungen sind also in beiderseitigem Interesse, denn im Gegenzug fungiert die Türkei dem modernen deutschen Imperialismus als Tor zum Mittleren Osten. So kann also die Einschätzung des Generalbundesanwalts, dass es sich bei YPG und YPJ um Derivate der PKK handelt, als politisches Geschenk an Ankara verstanden werden. Spätestens seit dem Festhalten an der Trio-These beim NSU hat aber der Generalbundesanwalt bewiesen, mit zweifelhaften Entscheidungen bei komplexen Sachverhalten Symbolpolitik zu machen.
Wenn die deutsche Politik und Wirtschaft um die Verbrechen der türkischen Regierung wissen und sich aus der zweiten Reihe beteiligen, werden sie somit zum Wiederholungstäter. Interessant ist an dieser Stelle, dass Sigmar Gabriel, der designierte Mitarbeiter des Monats bei Siemens/Alstom, seinerzeit als Außenminister immerhin die diplomatische Unverfrorenheit besaß, bei einem Staatsbesuch in Israel ein Treffen mit Oppositionellen dem mit Netanjahu vorzuziehen. Altmaier hingehen ging erwartungsgemäß gemütlicher an die Sache und hat Kritik eigenen Aussagen nach hinter verschlossenen Türen geäußert.
Na dann, auf gute Fahrt!

* – https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/tuerkeisicherheit/201962 (abgerufen am 30.11.2018).